4. Von uns weg auf Jesus hin ausgerichtet

Bei Antoine de Saint-Exupery lesen wir den Satz: „Die Erfahrung lehrt uns, dass Liebe nicht darin besteht, dass man einander ansieht, sondern, dass man gemeinsam in gleicher Richtung blickt.“[1] Dies ist ein überspitzter Satz. Es gehört unter Menschen, die sich lieben, dazu, sich gerne und immer wieder einander anzusehen. Aber es ist toll, wenn zwei Menschen, die einander zugetan sind, zusammen auf ein Größeres schauen können. Es ist gut, wenn man dieses gemeinsame Ziel nicht miteinander suchen muss, wenn man es vielmehr gesetzt oder geschenkt bekommen hat. Wer die Bibel liest und wem sie sich erschließt, für den ist Jesus Christus der Orientierungspunkt.

Während meines Studiums wurde vor allem über die Hoheitstitel Jesu Christi nachgedacht. Meine Lehrer zählten zu ihnen: der Menschensohn, der Sohn Gottes, der Davidsohn, der Messias oder der Christus und der Herr. Irgendwann ging mir auf: Die vielen Bildworte, mit denen Jesus von sich selbst geredet hat und mit denen seine Apostel und die anderen Prediger des Urchristentum ihn beschrieben haben, führen ebenso vor Augen, wer Jesus ist. So tut sich noch einmal ganz anders die Einzigartigkeit Jesu Christi auf[2].

Die Henne und die Küken

Wie schön und kraftvoll ist es z. B., wenn Jesus in seiner Klage über Jerusalem ausruft: „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel!“ (Mt 23,37; Lk 13,35) Zurzeit Jesu hatten die Menschen sehr genau vor Augen, wie eine Henne auf ihre Jungen achtgibt. Vielfältig konnte man es damals und kann man es heute in der Tierwelt beobachten, wie Muttertiere das Äußerste tun, um ihre Jungtiere beieinander zu halten und vor Gefahren zu schützen. Wie souverän und demütig wählt Jesus dieses Bild auf dem Höhepunkt seines Konfliktes mit den Führungskräften des jüdischen Volkes damals. So drückt er es aus, was sein innerstes Wollen gegenüber den Mitgliedern des von Gott auserwählten Volkes ist!

Der gute Hirte

Man könnte aus der Bibel um die hundert einzelne Worte und eindrückliche Geschichten zusammentragen, in denen von Hirten und Hirtinnen und dann von den Herden und vom Weiden die Rede ist. Angefangen mit der Geschichte von dem Brüderpaar Kain, dem Bauern, und Abel, der als Hirte lebte und von seinem Bruder erschlagen wurde (1. Mose 4), bis hin zu der Weihnachtsgeschichte, in der die Hirten auf dem Felde ihren festen Platz haben (Lk 2,1-20) und dem Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,3-7). Sie alle veranschaulichen das markante Wort Jesu: „Ich bin der gute Hirte.“ (Joh 10,14)

Juden und Christen kennen und lieben den 23. Psalm, dieses so eindrückliche Vertrauenslied. Eröffnet wird dieses Gebet mit den Zeilen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“ (V.1f) Es hat mich bewegt, als ich entdeckte: Dieser Satz klingt nicht nur an, er wird ausdrücklich dort zitiert, wo von den Vollendeten rund um den Thron Gottes die Rede ist. Von ihnen heißt es: „Das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen lebendigen Wassers.“ (Offb 7,17) Was in dem so bekannten Psalm-Gebet ausgesagt wird, vollendet sich für diejenigen, die durch die tiefen Täler gehen mussten und die zu Märtyrern geworden sind, die also „aus der großen Trübsal kommen“ (Offb 7,14), an dem Tag, an dem Gott alles in allem sein wird.   

Eine Vielfalt prophetischer Bilder

Man kann aus den Schriften des Neuen Testamentes zusammentragen und meditieren, in welcher Weise Jesus von Nazareth von anderen als der König bezeichnet wurde und wie er sich selbst als König bezeichnet hat. Man kann zu verstehen suchen, wie er von sich selbst als dem Eckstein gesprochen hat, der dem ganzen Haus der lebendigen Steine Halt gibt. Man kann es erläutern, wie einzelne Worte und ganze Bildgeschichten ihn als den wahren Weinstock und als den Bräutigam darstellen, auch als den hellen Morgenstern, den wahren Propheten und das Ebenbild Gottes. Wie bei einem kostbaren Diamanten mit seinen vielfältigen Fassetten sind an Jesus die erstaunlich vielen Seiten seiner Einzigartigkeit zu entdecken.

„Siehe, das ist Gottes Lamm!“

Noch ein Bild-Wort, das alleine vielfach in den Schriften des Johannes vorkommt: So wie es in Joh 1 beschrieben wird, wird uns Jesus als ein Lamm vor Augen gemalt. Johannes der Täufer weist seine Jünger auf Jesus hin und sagt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (V.29. 35) Das letzte Buch der Bibel bezeichnet Jesus dann 28 x als „das Lamm“. Wie bei dem Bild-Wort von der Henne wird auch hier ein Vergleich aus dem ganz alltäglichen Leben genommen. Ob die Menschen im Volk Israel während der Zeit als Sklaven des Pharao in Ägypten und dann in der langen Zeit der Wanderung durch die Wüste in Zelten wohnten, ob sie – wann auch immer – in ihren Dörfern lebten oder in Städten, immer hatten sie Tiere um sich, auch Schafe und Lämmer. Sie lebten von ihrer Milch, von ihrer Wolle und von ihrem Fleisch. Sie mussten für Wiesen sorgen und sie hatten sie vor wilden Tieren und Räubern zu schützen. Schafe, besonders Lämmer, waren wehrlos. Jedes Kind hatte es viele Male miterlebt, wie trächtige Schafe Lämmer warfen und wie Tiere geschlachtet wurden.

Wer dazu in Jerusalem lebte, sah es immer wieder, wie Schafe und Lämmer zum Tempel getrieben wurden; man schlachtete sie und opferte sie dann zur Ehre Gottes im Tempel, so wie das Gesetz es gebot. Bis zum Jahre 70 n. Chr., also bis zur Zerstörung Jerusalems durch die Römer, hatte man dies im Stadtbild Jerusalems vor Augen.

Es ist aber auch folgendes von großer Bedeutung, wenn Jesus als das Lamm Gottes bezeichnet wird: Die Menschen im Volk Gottes damals lebten mit den Erzählungen der Heilsgeschichte. Diese Geschichten standen in den Schriftrollen der hebräischen und der griechischen Bibel; sie wurden in den Synagogen vorgelesen, und in den Familien erzählte man sie. Wenn also von Johannes dem Täufer und von Johannes, dem Apostel, von dem Lamm Gottes gesprochen und geschrieben wurde, dann wurde an ganz unterschiedliche Texte erinnert, die im Gedächtnis vieler Menschen waren.

Das Passalamm

Jeder Israelit dachte bei dem Stichwort Lamm an das erste Passafest, das vor dem Auszug des Volkes Gottes aus Ägypten eingesetzt wurde, dem Land, in dem die Israeliten als Sklaven Fronarbeit verrichten mussten, und an die vielen Passafeste, die dann Jahrhunderte lang von dem Volk Israel gefeiert wurden. Heute inzwischen mehr als 3.000 Jahre lang. Nach 2. Mose 12,3ff hatte und hat jeder Hausvater vor dem Passafest ein Lamm zu nehmen, zu schlachten und es dann für das festliche Mahl im Kreis der Seinen vorzubereiten. Während das ägyptische Volk von der zehnten Plage, der Tötung der Erstgeburt, erschüttert wurde, starb in den jüdischen Familien stellvertretend ein Tier. Beim Passafest waren und sind die Familien im Volk Gottes zu einem festlichen Mahl versammelt und sie feiern zugleich ihre Befreiung aus Ägypten. – Vor seiner Gefangennahme, vor seinem Leiden und Sterben feierte Jesus dann in dem vertrauten Kreis seiner Jünger dieses Passamahl und setzte dabei das Abendmahl ein, bei dem er die Worte sprach: „… Das ist mein Leib; … das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. …“ (Mt 26,26.28).

„Auch unser Passalamm ist geopfert, das ist Christus“, ruft Paulus der Gemeinde in Korinth zu (1. Kor 5,7).  Damit erinnert der Apostel an die Einsetzung des Passamahles. Er war als jüdisches Kind aufgewachsen und so mit dem Passafest vertraut. Bei dem berühmten Rabbiner Gamaliel hatte er es gelernt, die Heilige Schrift auszulegen (Apg 22,3). Nun muss es irgendwann nach seiner Bekehrung und Berufung vor Damaskus geschehen sein, dass dem Paulus die eigentliche Bedeutung des Passalammes aufging. Ähnlich, wie damals Jahrhunderte vorher beim Auszug aus Ägypten die Lämmer stellvertretend für die Menschen starben, und noch ganz anders gab Jesus sein Leben stellvertretend für uns Menschen hin. Er wurde verraten und gefangen genommen, verhört und verurteilt und dann gegeißelt und gekreuzigt. So wurde er selbst zu dem Lamm, das sein Leben hingab.

Der Gottesknecht als das Lamm

Nun gibt es eine weitere Stelle aus dem Alten Testament, die Jesus selbst, seine Apostel und die Urgemeinde auf Jesus, den Messias Israels und den Heiland der Welt, bezog. Dies ist das 4. Gottesknechtslied aus dem Buch Deuterojesaja. Das Buch stammt von einem uns mit Namen nicht bekannten Propheten. Er wirkte unter den Gefangenen im babylonischen Exil. Nach der Eroberung Jerusalems und des Königreichs Juda durch den babylonischen König Nebukadnezar war die führende Schicht der Juden in Jerusalem nach Babylon verschleppt worden.

Dieses geheimnisvolle Gottesknechtslied mag den Propheten selbst (s. Jer 11,19) gemeint haben. Es könnte auch von den Leiden des Gottesvolkes selbst geredet haben. Jesus und seine Apostel, dazu die ganze Urgemeinde, haben hier in diesem Lied eine der ganz wichtigen Ankündigungen des Leidens und Sterbens Jesu gesehen. Mit unvergleichlichen Worten wird hier zunächst beschrieben, was Jesus von Nazareth für uns erlebt und erlitten hat: „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. … Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wie Frieden hätten.“ (Jes 53,4 u. 5)

Dieses ganze 4. Gottesknechtslied war also im Judentum zurzeit Jesu ein wichtiger Bestandteil der prophetischen Überlieferung. Zugleich haben Jesus, seine Apostel und die Missionare der Urgemeinde, von Gottes Geist erfüllt (vgl. Lk 4,18; Apg 1,8; 2,4.17f; 8,29), immer wieder neu auf dieses Wort des Propheten  zurückgegriffen (Mk 10,45; Apg 8,32f; 1. Petr 2,21-25), als es um die Deutung des Todes Jesu ging. Sie waren eine „Deutegemeinschaft“, haben also all das, was mit dem Kommen Jesu geschehen war, immer tiefer zu verstehen versucht[3]. „Von Gott eingegeben“, von seinem Geist inspiriert, haben sie Jes 53 im Horizont der Heilsgeschichte verstanden. 

Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird

Dies wird dann durch einen zu Herzen gehenden Tiervergleich bekräftigt: „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“ (V.7) Offensichtlich hat man immer wieder beobachtet, wie gebannt ein Lamm den todbringenden Messerstich erwartet, dann sein Blut vergießt und sein Leben aushaucht. Als Jesus beim Abendmahl den Kelch mit dem Wein nimmt und von dem Vergießen des Blutes für viele spricht (Mt 26,27f), greift er auf dieses Bild-Wort aus Jesaja 53 zurück.

In der Offenbarung des Johannes wird der Titel „Lamm“ 28 x für Christus gebraucht, 4 x heißt es von ihm: „ein Lamm, … wie geschlachtet“, Offb 5,6.9.12; 13,8). Man kann bei dem hier im griechischen Neuen Testament stehenden Wort auch daran denken, dass im Judentum das Schächten von Tieren geboten wurde und üblich war. Dabei wurde dem Tier mit einem Messer in einem einzigen Schnitt die Speiseröhre und die Luftröhre durchgeschnitten[4]. Ähnlich wie die Wundmale der Kreuzigung von seinen Jüngern an dem Leib des auferstandenen Christus wiederzuerkennen waren (vgl. Joh 20,27), ist nach den Visionen des Johannes auf der Insel Patmos bei dem Lamm, das zur Rechten des Thrones Gottes steht, die Narbe von der Schächtungswunde zu erkennen.

Es wird in Ewigkeit nicht vergessen werden, was Jesus damals auf dem Hügel Golgatha gelitten hat und wie er ein für alle Mal dort vor den Toren Jerusalems für die Sünde der Welt gestorben ist. Gerade wer sich als Christ intensiv mit dem christlichen Glauben auf der einen und dem Islam oder mit einer anderen Religion auf der anderen Seite beschäftigt und sich dabei vom Geist Gottes leiten lässt, beginnt Jesus in seiner Einzigartigkeit zu erkennen[5].

Entscheidungen sind gefordert

Im Neuen Testament heißt Glaube, es sich schenken lassen, von sich selbst weg und auf Jesus hin blicken zu können. Jemand will endlich aus dem Kreisen um sich selbst befreit werden. Andere sind es leid, sich immer und immer wieder in den Mittpunkt der Aufmerksamkeit anderer stellen zu müssen. Die Möglichkeiten, auf sich selbst fixiert zu sein, sind tausendfach. Wir alle werden von Gott dahin geführt, dass wir zum ersten Mal und dann immer wieder in Entscheidungssituationen gestellt werden. Dann geht es uns so wie den Beteiligten bei dem Weg Jesu von der Verhaftung im Garten Gethsemane angefangen bis hin zur Grablegung in dem Grab des Josef von Arimathäa (vgl.die letzten Kapitel der vier Evangelien). Jede der hier genannten Personen musste herausfinden, was er in der Tiefe seines Herzens wollte und dann handeln:

wachen oder schlafen,

treu bleiben oder fliehen,

lieben oder verraten,

bekennen oder verleugnen,

erleiden oder sich wehren,

umkehren oder sich verhärten,

anbeten oder lästern.

Bei der Vorbereitung der Passionsandachten vor Ostern in einer meiner Gemeinden habe ich mir einmal diese sieben Wort-Kombinationen zurechtgelegt und dann damit die einzelnen Geschichten der Passion Jesu ausgelegt. Es ist nicht schwer, sich selbst an Hand dieser Verben in eine Geschichte nach der anderen zu vertiefen, um dann zu entdecken, welche Entscheidungen heute von mir gefordert sind.

Impuls: Welche der Bilder, mit denen Jesus im NT beschrieben wird, haben sich mir besonders eingeprägt?    


[1] A. de Saint Exupery, Wind, Sand und Sterne, Düsseldorf 1956, S. 178

[2] s. Hartmut Frische, Prophetische Bilder. Leitbilder der Gemeinde Jesu Christi, mit einem Vorwort von Prof. Dr. Jürgen Fangmeier, in der Reihe: Horizonte des Glaubens, Neukirchen-Vluyn 2000

[3] G. Lohfink, Der letzte Tag Jesu. Was bei der Passion wirklich geschah, Stuttgart 2004, S. 82ff

[4] O. Michel, Art. „sfazo = schlachten“, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg v. G. Friedrich, VII. Band, Stuttgart 1966, S. 925 – 939, S. 933.

Vgl. auch Gottfried Schimanowski, Die himmlische Liturgie in der Apokalypse des Johannes. …, Tübingen 2002; hier besonders der Abschnitt 7: Exegese von Offenbarung 5, 7.2.2.2.d: Der Schächtschnitt und seine Heilsbedeutung, S. 222-229

[5] Vgl. H. Frische, Christen und Muslime. So nah, und doch so fremd, Nürnberg 2016, hier besonders das 10. Kapitel: „Jesus oder Muhammad – nur einer ist wahrer Prophet“, S. 93-1074. Von uns weg auf Jesus hin ausgerichtet

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