Leser und Leserinnen dieses Buches haben ein Recht darauf, zu wissen, wer sie jetzt mitnehmen möchten, dem prophetischen Wort auf die Spur zu kommen. Gedanken, durch die bedeutende Inhalte angerührt werden, müssen geerdet sein. Wer nach Gott sucht oder sich gar von ihm angesprochen weiß, sollte nicht übersehen, dass auch sein Leben davon bestimmt ist, dass sich „Menschliches, Allzumenschliches“ (Friedrich Nietzsche)[1] in ihm breit gemacht hat. Er selbst hat Hilfe und Heilung nötig. Schärfer formuliert: Auch in seinem Leben gibt es Situationen, in denen er erlebt hat, vor einem Abgrund zu stehen. Es soll hier nicht um zeitlose Wahrheiten gehen, nein, es muss erkennbar sein, in welcher Zeit und an welchen Orten Worte von Gott, zu Menschen gesprochen, ihre Wirkung gezeigt haben und in welcher Situation sie ihre Kraft zeigen können.
Dazu muss klar sein: Ich schreibe nicht als jemand, der aus einer Distanz heraus beobachtet, also aus wissenschaftlicher Neutralität. Ich möchte auch nicht ein Buch schreiben, in dem ich im Mittelpunkt stehe. Ich schreibe als jemand, der mit gemeint, der mit engagiert ist. Leo Tolstoi soll gesagt haben: „Liebe deine Geschichte. Sie ist der Weg, den Gott mit dir gegangen ist.“ Seit langem empfinde ich es als höchst interessant, in welcher Weise die Geschichte meines Lebens verwoben ist mit der Geschichte meines Landes und in welcher Weise es Berührungspunkte mit der Weltgeschichte gibt, auf die ich heute zurückblicken kann. So will ich an Hand von acht Stellen der Bibel erläutern, wie jede einzelne von ihnen eine Bedeutung für mich gewonnen hat.
2. Petr 3,18
Ich fange mit meinem Konfirmationsspruch 2. Petr 3,18 an. Ein älterer Pfarrer, der nach dem Ende des 2. Weltkrieges aus den deutschen Ostgebieten in meine westfälische Heimatstadt gekommen war, hatte uns auf die Konfirmation vorbereitet. Er gab mir im Konfirmationsgottesdienst als Leitvers den letzten Satz des 2. Petrusbriefes mit auf den Weg: „Wachset aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus.“ (V.18)
Sicher ist dieser Satz ein Wort der Ermahnung, aber er wirkt zugleich wie ein Segenswort an alle, die damals in den christlichen Gemeinden des 1. Jahrhunderts den 2. Petrusbrief gelesen haben und die dann dieses Wort in ihrer Bibel entdeckten. Wie bei vielen Pflanzen und auch bei Tieren gehören auch bei einem Menschen das Wachsen und das Blühen, das Hervorbringen von Früchten und das Reifen zum Leben dazu. Natürlich bin auch ich jemand, der es nötig hat, das Abendgebet für Kinder nachzusprechen: „Hab ich Unrecht heut getan, / sieh es, lieber Gott nicht an. / Deine Gnad und Jesu Blut / machen allen Schaden gut.“[2] Ohne die Gnade Gottes möchte ich nicht leben und nicht sterben.
Ausgesprochen gut finde ich es, dass ich als fast 14-Jähriger in einem festlichen Gottesdienst ein Wort der Bibel zugesprochen bekommen habe, in dem von der Erkenntnis des Glaubens die Rede ist. Erkennen ist eins der Wesenselemente des Glaubens. Glaube und Erkenntnis sind dabei ineinander verwoben. Je tiefer ich denjenigen, an den ich glaube und den ich liebe, erkenne, desto mehr kann ich ihm vertrauen. Je mehr ich ihm vertraue, desto mehr möchte ich von ihm wissen und ergründen, wer er ist. Je mehr ich mich als jemanden erkenne, der Gebote Gottes übertreten und seine Gnade nötig hat, desto mehr öffne ich mich ihm in seinem ganzen Wesen.
Der Glaube an Gott hat nicht nur etwas mit meinem Herzen zu tun, er bewegt mich nicht nur in meinem Innersten; er ist auch eine Sache des Kopfes. Gott zu vertrauen und ihn zu lieben kann mit überschwänglichen Gefühlen verbunden sein; aber zu ihm gehört auch Nüchternheit und Sachlichkeit. Es ist meisterhaft, wie Ambrosius, im vierten Jahrhundert der Bischof von Mailand, dichtete: „Herr Christ, sei du uns Trank und Speise; / erfülle uns mit deinem Geist,/ dass er im Überschwang uns weise, / wie man dich heilig-nüchtern preist.“[3] Überschwang und Nüchternheit in einem Atemzug! Das ist großartig formuliert. Erkenntnis strengt oft genug an, aber es macht auch Vergnügen, theologischen Gedanken nachzugehen. Mein erstes theologisches Buch bekam ich mit 16 Jahren geschenkt. Inzwischen sind viele Bücher, in denen es um den christlichen Glauben geht, durch meine Hand gegangen, oder sie haben ihren bleibenden Ort in meiner Wohnung gefunden.
Und dann spricht dieser Satz aus dem 2. Petrusbrief – ich weiß, dass um die Frage gerungen wird, wer der Verfasser dieses Briefes gewesen ist und wann er geschrieben wurde – unumwunden von unserem Herrn und Heiland Jesus Christus. Hier wird nicht drum herum geredet. Hier wird nicht ausgewichen. Man schämt sich nicht des Einen, in dem und durch den Gott wie in keinem anderen unsere Welt geliebt hat. Hier befiehlt Petrus, der Apostel der Kirche oder ein ihm nahe stehender Schüler, seine Gemeinde Jesus Christus an. Es ist ein Aufruf, aber es klingt wie ein Segensspruch. Die Gemeinde, an die dieser Brief geschrieben worden ist, wird in ihrem Leben und in ihrem Wachsen der gnädigen Führung Jesu anbefohlen.
- Mose 32, 27
Nun zu einer zweiten Stelle in der Bibel. Ich wünschte, ich könnte meine Leser mit in mein Studentenzimmer in Heidelberg nehmen. Es war notdürftig eingerichtet, dazu mit einem stinkenden Ölofen und mit einem Dachfenster versehen. Dort wohnte ich und hatte zum ersten Mal in meiner Ausbildung einen biblischen Text auszulegen. Der Dozent Hans Jürgen Hermisson hatte uns mehrere Texte aus dem Alten Testament genannt. Ich las sie und blieb an 1. Mose 32 hängen, da besonders an dem Satz: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ (V. 27) Jakob hatte Jahre vorher seinen Vater und seinen Bruder betrogen. Er war in das Land seiner Vorfahren geflohen, hatte dort geheiratet, gleich zweimal, Kinder bekommen und viele Güter erwirtschaftet. Jetzt zog er dorthin zurück, wo er geboren worden war. Da hörte er, sein Bruder Esau ziehe ihm mit 400 bewaffneten Männern entgegen.
Im Ost-Jordanland angekommen, bleibt er mitten in der Nacht am Ufer des Jabbok allein zurück. Da ist plötzlich jemand, der mit ihm einen Kampf beginnt. Stundenlang ringen beide miteinander. Irgendwie spürt Jakob, er hat es hier nicht mit einem Räuber und nicht mit einem Flussgott zu tun. Er ringt mit einem Engel Gottes. Alles in seinem Leben steht jetzt auf dem Spiel. Worte gehen hin und her. Jakob wird verwundet. Da ruft er diesem Boten Gottes entgegen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Nun wird dem Jakob klar: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen. Über der Stelle am Jabbok geht die Sonne auf. Jakob bricht als Gesegneter auf. Am nächsten Tag trifft er auf seinen Bruder Esau und versöhnt sich mit ihm.
Das Leben bringt Situationen mit sich, in denen alles auf dem Spiel steht. Will ich flüchten, oder soll ich standhalten? Werde ich alles verlieren, oder kann ich gewinnen? Soll ich in Zukunft an dem weiter arbeiten, was ich mir vorgenommen habe und was mir aufgetragen worden ist, oder soll ich aufgeben? Wird mein Leben im Finstern enden, oder bin ich auf meine Art berufen, Licht in der Welt zu sein? Jakob, nach Abraham und Isaak der dritte der Erzväter, hat eine solche Situation erlebt, und er ging als Sieger aus ihr hervor.
Fragen, die im Leben aufbrechen, müssen gestellt werden. Aufkommende Zweifel dürfen nicht geleugnet werden. Es ist nicht gut, Ängste zu verdrängen, sie sollen bearbeitet werden, und wo man sie sich eingestanden hat und sich mit ihnen auseinandersetzt, da kann unser Vertrauen an diesen Ängsten wachsen. Wo mir ein Ziel in den Blick gekommen ist, da lohnt es sich, auf dieses Ziel hin zu leben. Seitdem ich damals als junger Theologiestudent diese Geschichte von diesem archaischen Kampf am Jabbok in einer Seminararbeit ausgelegt habe, steht mir Jakob als das lebendige Vorbild eines glaubenden Menschen (Hebr 11,21) vor Augen.
- Kor 13,6
Ein weiterer biblischer Satz hat für mich eine Bedeutung. Nach vier Semestern wechselte ich von Heidelberg an die Universität in Bonn. Dort bezog ich ein Zimmer im Theologischen Stift. An jedem Tag in der Woche wurde eine Abendandacht angeboten. Jeder der Studenten konnte sich melden, diese Andacht vorzubereiten und zu halten. Eines Tages in den Jahren 1969 oder 1970 habe ich mich in die Liste eingeschrieben; ich hatte mir vorgenommen, über den Satz aus 1. Kor 13, dem großartigen Lied über die Liebe, zu sprechen und da über den Satz: „… sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit“ (V.6). Es war die Zeit, in der die RAF agierte, die Rote Armee Fraktion, eine Gruppe, in der Studenten und junge Akademiker aufbegehrten und gegen die Mächtigen in der Gesellschaft protestierten. Im Grunde war diese Gruppe eine links-intellektuelle Terrorgruppe. Um auf sich und ihre Ziele aufmerksam zu machen, demonstrierten sie in vielen Städten unseres Landes, scheuten nicht vor der Gewalt gegen Sachen zurück, zündeten Kaufhäuser und Pressezentren an. Dann töteten sie auch Menschen. Mehr als 30 Morde gingen in den dann folgenden Jahren auf das Konto dieser Gruppe zurück.
Ich las darüber in den Zeitungen; wir schauten miteinander im Stift die Nachrichten im Fernsehen; wir sahen die Bilder von den Demonstrationen der RAF; wir diskutierten darüber. Und unter uns Theologiestudenten kam der Gedanke auf, in der eigenen Kirche auf Missstände hinzuweisen und deshalb Einfluss auf die Landessynode zu nehmen. Sympathien für die RAF hatte ich nicht. Außerdem war ich damals in der Mitte meines Studiums noch immer davon bedrückt, dass 1968 mein älterer Bruder am Ende eines langen Krankenlagers verstarb. Er hatte vor mir mit dem Studium begonnen und wollte Wycliff-Bibelübersetzer irgendwo in der weiten Welt werden. Das dafür nötige Seminar für Sprachmethodik hatte er bereits hinter sich. In unserer Familie waren wir miteinander traurig darüber.
So versuchte ich, 1. Kor 13,6 auszulegen. Natürlich ist es geboten, in mir selbst den Sinn für Recht und Unrecht zu schärfen. Sicher ist es gut, wenn ich in einer Beziehung, in meiner Familie und in einer Gruppe meinen Finger auf geschehenes Unrecht lege. Ich halte es ganz und gar nicht für falsch, in der Kirche und in der Gesellschaft beim Namen zu nennen, was unwahr, heuchlerisch und gefährlich ist. Zivilcourage ist eine wichtige Tugend.
Paulus, der Verfasser des Hohen Liedes der Liebe, hat für die Wahrheit gestritten, vor allem gegenüber den Männern und Frauen, die sich in den Missionsdienst im Namen Jesu gerufen wussten, und unter denjenigen, die neben ihm und dann nach ihm die jungen Christengemeinden geleitet haben. Aber gegen die oft zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten im römischen Reich, dessen Staatsbürger er war, hat er nicht gekämpft. Vor allem ist er bei seinen Auseinandersetzungen mit den Menschen nicht gewalttätig geworden.
Nein, es ist bezeichnend für Paulus, dass er über die Liebe in 1. Kor 13 schlicht schreibt: „… sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit“; und dann fügt er hinzu: „sie freut sich aber an der Wahrheit“. Ganz dezent redet Paulus hier. Er verbirgt, dass auch er manchmal über falsches Reden und Handeln aufgewühlt ist. Er ereifert sich nicht. Auch er leidet unter den Ungerechtigkeiten in der Welt. Aber er lässt sich von den Ungerechtigkeiten nicht das Gesetz des Handelns aufzwingen. Paulus weiß, dass die Liebe Geduld und Weisheit braucht, um eine Ungerechtigkeit im Nerv zu treffen.
Jes 53,4-7
Vor nicht allzu langer Zeit hat für mich ein anderes Wort aus dem Alten Testament eine besondere Bedeutung bekommen. Ich habe zugleich nachfühlen können, wie wichtig dieses Wort für den Zusammenhang des Alten und des Neuen Testamentes ist. Ich erlebte einen Unfall mit meinem Auto; ich selbst blieb unversehrt; ein anderer, ein junger Motorradfahrer, wurde schwer verletzt; und ich war schuld daran. Ich stieg aus meinem Auto; mir wurde klar was geschehen war; fassungslos und schockiert stand ich auf der Straße. Menschen waren zur Stelle, um zu helfen; ein Streifenwagen der Polizei traf ein, dann die Rettungssanitäter und die Feuerwehr. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Ich war erschüttert wie nie vorher.
Da kamen mir die Verse aus dem Lied des Gottesknechtes in den Sinn: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. … Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Mir ist bekannt, wie kontrovers diese Sätze aus dem Buch Deuterojesaja unter den Auslegern diskutiert werden: Wie hatte der Prophet sie zu seiner Zeit gemeint, und welche Bedeutung haben sie in der Verheißungsgeschichte Gottes? Zugleich bin ich mit vielen anderen Theologen der Überzeugung, dass Jesus selbst seinen Weg bis hin zur Kreuzigung auf dem Hügel Golgatha von diesem Lied her verstanden hat (Mk 10,45; 14,24; 15,27). Auch die Urgemeinde hat das Leiden und Sterben Jesu von Jes 53 her gedeutet (Apg 8,32; 1. Petr 2,24)[4]. Seit Jahrhunderten werden diese Sätze aus Jesaja 53 in den Gottesdiensten am Karfreitag verlesen und gepredigt.
Bei meinem Unfall mitten im Jahre 2019 wurden mir diese Worte zum inneren Halt. Wie sehr ich auch schuldig bin, Jesus ist auch für meine Schuld gestorben. Ich kann mich zu ihm hin flüchten. Ihm vertraue ich den verletzten jungen Mann und seinen Weg an, wieder ganz gesund zu werden. Natürlich muss ich mich dem stellen, was jetzt auf mich zukommt. Ich darf aber aus der Vergebung leben, die mir durch dieses biblische Wort zugesprochen worden ist. Dies gibt mir die Kraft, die Belastung durch diese Erschütterung durchzustehen.
Ich füge hinzu, dass ich das Gespräch mit Dominik, dem jungen Motorradfahrer, gesucht habe und er mit mir. Inzwischen haben wir uns mehrmals unterhalten. Ich finde es ungemein entlastend, dass er – trotz der schweren Verletzungen – mir gegenüber ohne Groll ist.
Röm 8,15 – Gal 4,6
Ich habe viel aus Büchern, aus Predigten und von Vorträgen anderer gelernt. Aber ich habe auch eigene Entdeckungen gemacht. Was sich mir so erschlossen hat, ist mir besonders wichtig. Das Markus-Evangelien überliefert, dass Jesus es in seinem innigen Gebet im Garten Gethsemane wagte, den heiligen Gott, seinen Vater im Himmel, mit dem Wort „Abba“ anzureden (Mk 14,36). Dies ist ein Wort aus dem Aramäischen, der Muttersprache Jesu. Es ist unschwer zu erkennen, dass hier das Wort gemeint ist, mit dem ein Kleinkind seinen Vater anredet, also unser „Papa“. Die Art und Weise, wie Jesus hier den heiligen Gott anredet, ist einzigartig. Nie vorher und nie nachher hat ein Mensch jüdischen Glaubens so geredet. Aber Jesus hat mitten in seinem Gebets-Ringen dort am Hang des Kidron-Tals aus der Tiefe seines Herzens so zu Gott geredet.
Dieses Wort wird an zwei Stellen der Paulusbriefe wiederholt, in Röm 8,15 und Gal 4,6. Wo ein Mensch sich von Gott angesprochen weiß, wo er sich als Sünder zu sehen gelernt hat und wo er nun um Jesus willen aus der Barmherzigkeit Gottes lebt, da ist er Kind Gottes. Man kann genauso gut sagen: Da darf er, da darf sie als Sohn, als Tochter Gottes leben.
Eigenartiger Weise gibt es nun in Röm 8 und Gal 4 einen feinen Unterschied. In Röm 8,15 steht: Ihr habt einen Geist empfangen, durch den oder in dem wir rufen: Abba, lieber Vater! In Gal 4,6 aber heißt es: Der Geist ist in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, lieber Vater. Hier ist unser Innerstes der Raum, in dem der Geist Gottes ruft; dort ist der Geist Gottes die Ursache und der Raum, in dem wir rufen. Irgendwann fiel mir dies auf[5].
Wo Gott angefangen hat, an einem Menschen zu wirken, wo sich deshalb ein Mensch für die Stimme Gottes öffnet, wo er seine Ermahnungen und Ermunterungen gerne hört, da wird er Tochter oder Sohn Gottes. Und da werden der Geist Gottes und das innerste Wollen des Menschen eins, ununterscheidbar eins. Ein Mensch auf dieser Erde, der sehr wohl den Abgrund in sich entdeckt hat und immer wieder an den Rand dieses Abgrundes zu stehen kommt, darf und soll nun aus der Kraft des Geistes Gottes reden und handeln. Für einen Christen und für eine Christin ist das Selbstbewusstsein nicht eine natürliche Anlage, sondern ein Geschenk Gottes.
Gal 1,15
Die Bibel wäre nicht entstanden, ja, die Geschichte Gottes mit den Menschen hätte nicht ihren Lauf genommen, wenn Gott nicht immer wieder neu Männer und Frauen berufen hätte. Ich nenne nur die eine Stelle: In Gal 1 schreibt Paulus von sich ganz persönlich: Gott hat ihn von Geburt an ausgesondert und durch seine Gnade berufen (V.15). Er gebraucht dabei Formulierungen, die aus der Berufungsgeschichte des Jeremia bekannt sind. In welch dramatischer Weise dies im Leben des Saulus-Paulus geschah, schildert Apg 9.
Man kann auch mich fragen: Weißt du dich dazu berufen, als Pastor zu leben und zu arbeiten? Es wäre für mich eine unzureichende Antwort, wenn ich erzählte: Einer meiner Mitabiturienten hat in der selbstgemachten Zeitschrift zum Abschluss unserer Schulzeit über mich geschrieben: „Sein Berufsziel stand seit Sexta fest.“ (Der Duden erläutert hier: Sexta = veraltende Bezeichnung für erste Klasse eines Gymnasiums). Also seit meinem 11. Lebensjahr! Dies stimmt nicht ganz; aber seit meinem 14., 15. Lebensjahr konnte ich mir meine Zukunft nur als Pfarrer in einer Gemeinde vorstellen.
Bei meinem ersten theologischen Examen bekam ich von der Evangelischen Kirche von Westfalen für die wissenschaftliche Hausarbeit als Thema zugewiesen, das Verhältnis von Theologie und Kirche bei Hans Joachim Iwand zu beschreiben. Iwand war von 1945-1960 Professor für systematische Theologie in Göttingen und Bonn. Beim Schreiben dieser Examensarbeit entdeckte ich, dass Iwand vielfach das Wesen der Berufung für einen evangelischen Pfarrer beschreibt[6]. Wo ein junger Mensch vor oder während des Theologiestudiums für sich entdeckt: Das Evangelium von Jesus Christus ist und bleibt die Wahrheit, für die ich bei allen Herausforderungen des Lebens und auch angesichts der Macht des Todes einstehen möchte!, da hat er die Gewissheit empfangen, berufen zu sein, seine Ausbildung zum Pfarrer abzuschließen und, wenn ihn eine Kirchengemeinde wählt, als Pfarrer zu leben und zu arbeiten.
Nun aber ereignete sich außerdem folgendes: Ich war inzwischen 30 Jahre alt und hatte meinen Dienst als Pastor im Hilfsdienst in meiner ersten Gemeinde angetreten. Eines Tages ging ich in eines der Krankenhäuser in Lüdenscheid, um dort kranke Gemeindeglieder zu besuchen. Da traf ich in einem Einzelzimmer auf einen älteren Mann, der auf seinem Nachttisch und auf seinem Bett verstreut etwa 10 theologische und philosophische Bücher liegen hatte. Dieser Mann – er hieß Wolf Conze – war der Chef einer Firma für die Produktion von Abzeichen, und er verwickelte mich in ein etwa einstündiges Gespräch. Dieses erste Gespräch setzten wir etwa sieben Jahre lang fort; mal verabredeten wir uns in seinem oder in meinem Haus; mal trafen wir uns an einer Straßenecke; mal telefonierten wir miteinander – bis er an einer Krebserkrankung starb; Gott rief ihn heim. Im Kern ging es in diesen vielen Gesprächen um die Frage: Was hat uns das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, heute zu sagen?
An einer bestimmten Stelle versuchte er mir deutlich zu machen: „Ich übergebe Ihnen ein Vermächtnis. Ich weiß nicht, ob sie es annehmen können; und ich kann ihnen auch nicht sagen, wie sie damit umgehen; aber ich bitte sie, es sich zu Herzen zu nehmen.“ Dabei strahlte sein Gesicht in ungewöhnlicher Weise. Ich habe bisher keine Vision gehabt, und ich habe keine Stimme aus dem Jenseits gehört. Aber hier war es mir, als habe Gott mich berufen, auf die Botschaft von der Insel Patmos im Ägäischen Meer (Offb 1,9) zu hören, die Johannes empfangen, niedergeschrieben und uns überliefert hat. Ich konnte damit nur umgehen, indem ich mir nach und nach viele Bücher aus der seriösen Literatur zur Offenbarung kaufte und las. Ich habe mich mit den Problemen der Auslegung vertraut gemacht und mich um eigene Antworten bemüht. Ich habe Kapitel um Kapitel meditiert und dabei auf mein Inneres gehört. Und ich habe inzwischen mehrfach mit Gemeindegliedern auf Tagungen und in Hauskreisen Texte dieses apokalyptischen Buches des Neuen Testamentes gelesen und sie zu uns und in unsere Zeit hinein sprechen lassen.
- Kor 14,1
Nach Jahren las ich wieder einmal 1. Kor 12-14, die Kapitel über die Charismen, die Geistesgaben. Ich stieß auf den Vers 1. Kor 14,1: „Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber darum, dass ihr prophetisch redet!“ Da dachte ich: Ob ich berufen bin, ein Prophet zu sein, weiß ich nicht. Aber dieses, was hier steht, will ich tun: mich bemühen um das prophetische Reden, um das so geheimnisvolle Miteinander von Verheißung und Erfüllung. Ausführlich überliefert die Bibel es uns, wie ein Prophet nach dem anderen, unter ihnen auch Prophetinnen, auftrat und verkündigte. Wenn von ihnen allen Bilder oder zumindest Zeichnungen überliefert worden wären, könnte man sie so darstellen, wie man es bei den Fürsten von Sachsen in Dresden getan hat. Ich kann auch sagen: Ich will zur Verfügung stehen, wenn die Worte und Bilder der prophetisch redenden Männer und Frauen der Bibel hinein sprechen in die Wirklichkeit der Welt heute. Gerade wo Menschen bei der Suche nach der wegweisenden Wahrheit auf Dilemmata um Dilemmata stoßen, will ich versuchen, auf das „prophetische Wort“ zu achten (2. Petr 1,19).
Impuls: Welche sieben, zehn oder zwölf Worte der Bibel haben auf Ihrem Lebensweg eine besondere Bedeutung gewonnen?
[1] F. Nietzsche, Werke in zwei Bänden, hg. v. Ivo Frenzel, München 1967, Band I., Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, S. 231 – 479
[2] Gedichtet im Jahre 1817 von Luise Hensel, einer jungen Erzieherin, s. EG 484, 2. Strophe des Kinderliedes: „Müde bin ich, geh zur Ruh“
[3] EG 683; 3. Strophe des Morgenliedes: „Du Glanz aus Gottes Herrlichkeiten“, 1952 von dem Schweizer Germanisten und Schriftsteller Fritz Enderlin übersetzt
[4] S. Hans Walter Wolff, Jesaja 53 im Urchristentum, mit einer Einführung von Peter Stuhlmacher, Gießen 1984, 4. Auflage. Dieses Buch geht auf eine Dissertation von H. W. Wolff im Jahre 1942 bei Julius Schniewind und Ernst Wolf an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg zurück.
[5] Später habe ich gesehen, dass auch andere dies so beschrieben haben, z. B. Walter Grundmann, Art.: „krazo“ (= schreien, rufen), in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Dritter Band, hg. v. G. Kittel, Stuttgart 1938, Nachdruck 1957, S. 898-904, 903
[6] Z. B. H. J. Iwand, Theologie als Beruf, 1929 und 1951, in: Glauben und Wissen, hg. v. H. Gollwitzer; Nachgelassene Werke, hg. v. H. Gollwitzer, W. Kreck, K G. Steck u. E. Wolf, Erster Band, München 1962, S. 219-274