Jes 58

Predigt über Jes 58.6-9 – „Die so im Elend sind, führe ins Haus!“

                                                                                                      Im Okt. 2015

Am 3. Okt. haben unser Land und unsere Kirchen ein Fest gefeiert: 25 Jahre Wiedervereinigung. Unser Bundespräsident Joachim Gauck hat eine viel beachtete Reden gehalten. Er hat zurück geschaut – und nach vorne. Die weithin geglückte Vereinigung der neuen mit den alten Bundesländern ist ein Ansporn, sich jetzt der großen Aufgabe zu stellen, mit der riesigen Welle der in unser Land hinein strömenden Flüchtlinge recht umzugehen.

Am 18. Okt. bekam ein in Deutschland geborener Moslem in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen; er bedankte sich mit einer außerordentlichen Rede. Am Schluss forderte er die Anwesenden auf, im Stillen mit ihm zusammen für die Verfolgten in Syrien und im Irak zu beten. Immer wieder passiert in unserem Land Erstaunliches.

Es gibt allerdings einige Akzente, die wir in einem christlichen Gottesdienst anders setzen dürfen und anders setzen müssen. Vielleicht kann man in der Ruhe ostwestfälischer Dörfer über diese Geschehnisse sorgfältiger nachdenken als im Getriebe der großen Städte. Auf fünf solcher Akzente will ich jetzt hinweisen:

Wir haben soeben die kleine Rede aus dem letzten Teil des Jesaja-Buches gehört. In ihr heißt es: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend sind, führe ins Haus!“

Das sind Worte aus der Zeit, als das Volk Israel aus der babylonischen Gefangenschaft nach Juda zurückgekehrt war. Die Menschen rund um Jerusalem mussten nun die Felder neu bestellen und alles wieder aufbauen. Es ist die Zeit etwa 537 – 520 v. Chr., eine kümmerliche Zeit. Die Israeliten hatten es mit Jubel gehört, dass der Perserkönig Kyros ihnen erlaubte, wieder heimzukehren. Sie hatten die große Not der Verschleppung, der Gefangenschaft und des langen Marsches durch die Steppe hinter sich. Aber nun steckten sie in den kleinen Nöten des Wiedereinlebens und des mühsamen erneuten Aufbaus. Wer jetzt ein „handicap“ hatte, besonders arm war oder kein Dach über dem Kopf hatte, den konnte man nur bedauern. Hier ermahnt der Prophet: „Die so im Elend sind, führe ins Haus!“

Ich kenne dieses Wort von Kindheit an. Von meinem 5. Lebensjahr bis zu meinem 25. Lebensjahr habe ich mit meinen Eltern und mit meinen drei Brüdern in einem Haus gewohnt, an dem auf dem Grundstein dieser Satz steht. Sollten Sie nach Hagen-Haspe kommen, können Sie es sich noch heute dort anschauen. In diesem Haus gab es neben einigen Wohnungen und Geschäften ein Männerheim. Träger war und ist der Blaukreuz-Verein, ein Verein von Christen, die für Alkoholiker da sein wollen. Da waren 20-30 Einzel- und Doppelzimmer. In dem Industriestadtteil Haspe mit der Klöckner Hütte wohnten hier Männer, die mit einem preiswerten Zimmer zufrieden waren. Viele von ihnen waren so auf Abwege gekommen, dass sie froh waren, hier eine Bleibe gefunden zu haben. Wer es von mir hören möchte, dem könnte ich locker eine Stunde lang von dem erzählen, was wir in diesem Haus erlebt haben, an dem auf dem Grundstein steht: „Die so im Elend sind, führe ins Haus!“

Deshalb sage ich „Ja“ dazu, dass unser Land freundlich ist gegenüber den Menschen, die heute im Elend sind und denen vieles von dem fehlt, was wir Menschen brauchen. Vorgestern haben wir uns von der SPD-Ratsfrau Jutta Buhre im Hartumer Männerkreis erzählen lassen, wie das ist mit der „Willkommenskultur hier bei uns in Hille“. Bitte: Machen Sie mit, wenn es um gebrauchte Fahrräder, um kleine Möbel und um leerstehenden Wohnraum geht.Auch ich habe Sorge. Auch ich frage mich: Wie soll das weitergehen? Werden wir es schaffen? Unrealistisch und blauäugig möchte ich nicht sein. Wie wird sich unser Land verändern, wie unsere Kirchen? Wie werden die vielen Menschen von uns in der Bundesrepublik aufgefangen? Und wie können wir den vielen mit ihren traumatischen Erfahrungen helfen?

Deshalb sage ich: Ich bin froh, dass ich um den weiß, der zur Rechten Gottes sitzt. Und da bin ich nicht so vage wie Friedrich Schiller, der in dem Lied an die Freude singt: „Brüder – überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“ Sie kennen die Zeile aus „Freude schöner Götterfunke“. Nein, uns ist es gesagt, wer mit auf dem Thron Gottes sitzt und wer mit regiert. Wir bekennen es in jedem Gottesdienst: „Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters.“ Und Paulus schreibt in Röm 8: „Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.“ (V.34)

Zur Rechten Gottes sitzt Jesus. Er ist nicht irgendwo im Vorderen Orient begraben und modert vor sich hin. Er ist der Lebendige, der seine Gemeinde führt und der im Verborgenen die Geschicke der Welt lenkt. Kein anderer! Wir werden gleich den Vers von Philipp Friedrich Hiller singen: „Jesus Christus herrscht als König, alles wird ihm untertänig, alles legt ihm Gott zu Fuß. Aller Zunge soll bekennen, Jesus sei der Herr zu nennen, dem man Ehre geben muss.“ Nicht ganz so laut würde ich zurzeit den Vers von Joachim Neander singen: „Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret.“ Dazu ist mir in diesen Wochen und Monaten zu viel verhangen, bedrängend und ganz und gar nicht „herrlich“.

2. Ich bin dankbar dafür, dass wir Politiker haben, die jetzt nüchtern bleiben, Herz zeigen, Verantwortung übernehmen, zumindest daran gehen, einen Plan zu machen, und Zuversicht verbreiten. Ich will ihnen zutrauen, dass sie überlegt und tatkräftig durch diese Flüchtlingskrise hindurch führen, auch wenn das noch ein langer Weg sein wird. Aber noch wichtiger ist es, an Gott den Vater und an Gott den Sohn zu glauben, die alle Macht in ihren Händen haben. Jesus weiß, was er uns zumuten kann, uns als Kirche, uns als Bundesrepublik und uns als Europa. Es braucht nicht nur „die Rückbindung aller an unumstößliche Werte“, wie das zurzeit so die Politiker sagen; es braucht ein neues Fragen nach Gott; es braucht ein neues Vertrauen auf Gott; und es braucht einen neuen Gehorsam ihm gegenüber. 10 x ist im Neuen Testament von dem Allmächtigen, von dem Pantokrator die Rede.3. Für viele sind wir jetzt als Christen besonders verantwortlich.

Willy Brandt hatte am 10. Nov. 1989 vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin gesagt: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Joachim Gauck hat jetzt am 3. Oktober in Frankfurt daran erinnert und dann hinzugefügt: „Anders als damals soll nun zusammenwachsen, was bisher nicht zusammen gehörte. Ost- und Westdeutsche hatten ja dieselbe Sprache, blickten auf dieselbe nationale Kultur und Geschichte zurück.“ Heute kommen so viele aus ganz anderen Kulturbereichen. Es wird schwer sein, jetzt zusammenwachsen zu lassen, was bisher nicht zusammen gehörte.

Aber unter den Massen, die jetzt nach Europa strömen, sind viele, viele, mit denen wir als Christen zusammen gehören. Wir glauben an denselben Gott. Wir glauben gemeinsam an Jesus von Nazareth, den Gottes- und Menschensohn. Wir haben dieselbe Bibel. Mit den syrisch-orthodoxen Christen, mit den armenischen Christen und mit den Kopten gehören wir zusammen. Zweimal bin ich in dem koptischen Gottesdienst gewesen, der seit etwa einem Jahr zweimal im Monat am Samstagmorgen in Minden in der St. Mauritiuskirche gefeiert wird.

Einmal im Neuen Testament steht es: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Jesus sagt uns klar: (Matth 25) Wir sollen jedem helfen, der hungrig und durstig, fremd und nackt, krank und gefangen ist, soweit wir können. Solche Menschen in Not sind unsere Schwestern und Brüder. Die Katholische Kirche fügt hier das würdige Beerdigen der Toten hinzu und spricht dann von den sieben Werken der Barmherzigkeit.

Aber viele Male steht es im Neuen Testament, dass wir Christen in besonderer Weise an die gewiesen sind, die mit uns zur großen Familie Gottes gehören. Wir finden in den Evangelien die kleine Geschichte: Jesus predigt irgendwo. Da tauchen im Hintergrund seine Mutter und seine Brüder auf. Die Menschen schauen dorthin und machen Jesus darauf aufmerksam: „Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.“ Aber Jesus folgt nicht den Blicken seiner Zuhörer. Ganz betont sagt er: „Meine Mutter und meine Brüder sind diese, die Gottes Wort hören und tun.“ (Luk 8, 21) Viele Male geht es in den Evangelien und in den Briefen der Apostel vorrangig um unsere Glaubensgeschwister, um unsere Mütter und Väter im Glauben und um die Kinder, die auf ihre Weise bereits Jesus nachfolgen.

Es müsste unser Ziel sein, Migranten, Asylanten, Flüchtlingen nicht nur Unterkunft und Verpflegung, Bekleidung und Arbeit zu geben, Ihnen medizinische Versorgung zu bieten und sie Deutsch lernen zu lassen, sondern sie in unsere Gemeindekreise und Gottesdienste einzuladen, und dann auch in unsere Häuser. Wer von ihnen an Jesus glaubt, ist unsere Schwester und unser Bruder! Wer sich einladen lässt, mit uns die Bibel zu lesen und Gottesdienst zu feiern, gehört in besonderer Weise dazu. Ich wünsche es mir, dass wenigstens einige der Flüchtlinge, Migranten und Asylanten im Dezember bei unseren Adventsfeiern und Weihnachtsgottesdiensten dabei sind.3. Es gibt etwas 4.: Viele, die aus Syrien, aus dem Irak, aus Eritrea und Nigeria gekommen sind, wurden als Christen verfolgt, gefoltert und vertrieben.

4. Es gehört zu den Zeichen der letzten Zeit, dass Menschen fliehen müssen und dass Christen verfolgt werden. Christen werden verfolgt, jetzt nicht für uns unerreichbar, weit hinter dem „Eisernen Vorhang“, der 44 Jahre lang Europa zerteilte, und jetzt nicht irgendwo in der 3. Welt.

Nein, heute sind die verfolgten Christen nicht weit weg. Sie sind fortwährend in den Balkanländern auf dem Weg zu uns, stehen an unseren Grenzen, strömen in unser Land, kampieren auf unseren Bahnhöfen und in Notquartieren und klopfen an unsere Türen. Sicher leiden auch viele Muslime und Andersgläubige unter den Islamisten. Aber Christen leiden heute besonders viel unter radikalen Muslimen in islamisch geprägten Ländern.

Ich finde es richtig, dass sich Christen an jedem Freitagabend um 18.00 Uhr am Rathaus in Minden treffen um für die verfolgten Christen in aller Welt zu beten.

Während der Hitlerzeit wurden nicht nur Kommunisten und Sozialisten, Juden und Polen, Sintis und Romas, Geistig-Behinderte und Homosexuelle verfolgt, sondern auch Christen. Diese Männer und Frauen damals haben wegen ihres offenen Wortes und ihres Widerstandes gegen Hitler ihr Leben riskiert und hingegeben. Die Besten aus unserem Volk und aus unseren Kirchen haben ihr Leben geopfert, wahre Märtyrer der Gemeinde Jesu. Wir Christen in Deutschland müssten ganz besonders sensibilisiert sein, um für die da zu sein, die heute um Jesu willen verfolgt werden.

Und dann habe ich einen 5. Punkt: Christen und Muslime haben eine Nähe zueinander. Aber wir stoßen dann auch auf eine Fremdheit. Dabei brauchen wir eine tiefere Gewissheit im Glauben. Wir brauchen eine größere Geschicklichkeit, mit Menschen in Kontakt zu kommen, auf sie einzugehen, sie zu verstehen und ihnen dann von unserem Glauben zu erzählen. Wir brauchen eine größere Liebe zu Menschen, die uns fremd sind. Jesus selbst spornt seine Jünger und damit auch uns an, wenn er sagt: „Die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts.“ (Luk 16,8)

Aber dann glauben wir, dass unser Vater im Himmel uns das an Liebe und Zuversicht, an Eifer und innerer Freiheit, an geistiger Lebendigkeit und zupackender Hilfsbereitschaft gibt, was wir brauchen. Beides gehört zusammen: „Die so im Elend sind, führe ins Haus!“ (Jes 58) und, wie es 1. Petr 3,15 heißt: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.“  Da wird es, gerade wenn unsere Gesellschaft vielfältiger, bunter, zerrissener wird, je länger je mehr bitter nötig sein, dass wir den Koran lesen und den Islam studieren, noch und noch, und gleichzeitig wachsen „in der Erkenntnis Jesu Christi“, wie es in meinem Konfirmationsspruch aus 2. Petr 3,18 heißt. Wir müssen es lernen, auf Muslime und Musliminnen mit Takt und mit Liebe zuzugehen. Wir wollen bereit sein, uns von ihnen beeindrucken zu lassen und zu lernen.