Hartmut Frische,
Gottesdienst am Pfingstmontag, 21.05.2018, in und
an der Mühle in Hartum
Liebe Gemeinde,
manche möchten am Anfang einer Predigt wissen: Über welches Wort der Bibel predigst du heute? Bei welchem Thema sollen wir mitdenken und was sollen wir uns dann dies oder das zu Herzen gehen lassen? Ich habe mir ausgesucht: Kol 3,16: „Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“ Da geht es also um Lieder, die der Pfingstgeist, der Heilige Geist wirkt.
Ausgehen möchte ich von einer Wendung aus einem Tauflied (EG 596,1): „Kind, du bist uns anvertraut. Wozu werden wir dich bringen? Wenn du deine Wege gehst, wessen Lieder wirst du singen?“
„Wessen Lieder wirst du singen?“ Wir können ruhig an die eigenen Kinder denken und an die Enkelkinder, an die Patenkinder, an die Nichten und Neffen. Was haben wir uns damals bei der Taufe für sie gewünscht? Und welche Lieder singen sie heute? Welche CDs legen sie auf? Welche Musik machen sie? Zu welchen Konzerten gehen sie? Singen und musizieren sie auch in der Kirche mit?
Ich will jetzt nicht aufzählen, mit welchen Liedern ich gelebt habe und mit welchen Liedern ich lebe. Die Lieder aus der Mundorgel gehören dazu, auch die Blödel-Lieder darin. Einmal habe ich bei einem Frauenhilfs-Ausflug die Frauen damit verblüfft, dass ich „Die Affen rasen durch den Wald“ anstimmte und dann alle den Refrain mitsingen ließ. Mit den Spirituals, den geistlichen Liedern der Schwarzen in Amerika bin ich vertraut. Manchmal pfeife ich das etwa 200 Jahre alte „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?“
Ich denke an den 21. Januar. Die SPD war in Bonn zu ihrem Sonder-Parteitag zusammengekommen, um miteinander abzustimmen, ob sie sich auf Koalitionsverhandlungen einlässt. Als alles entschieden und die Schlussworte gesprochen waren, standen die Delegierten auf und sangen: „Wenn wir schreiten Seit an Seit“. Da ging es mir durch den Kopf: Was singen die eigentlich jetzt für ein Lied? Ich stand auf und schaute ins Internet. Ziemlich schnell fand ich heraus: Das ist ein Lied aus der Zeit der Jugendbewegung um 1913; irgendwann wurde es zu einem Lied der Gewerkschaften; geschrieben hat es ein Volksschullehrer, dessen Name ich seit langem kenne: Hermann Claudius (1878-1980), ein Enkel von Matthias Claudius. Von ihm habe ich oft singen lassen, und meine Konfirmanden ließ ich es früher auswendig lernen: „Wisst ihr noch, wie es geschehen? / Immer werden wir’s erzählen: / wie wir einst den Stern gesehen / mitten in der dunklen Nacht.“ Und dann: „Stille war es um die Herde./ Und auf einmal war ein Leuchten / und ein Singen ob der Erde,/ dass das Kind geboren sei.“ (EG 52,1+2) Ein schönes, Kindern und Jugendlichen gemäßes Weihnachtslied, meiner Ansicht nach.
Jetzt weiß ich: Die SPD hat sich dieses Gewerkschaftslied als ihr programmatisches Lied ausgesucht: „Wenn wir schreiten Seit an Seit / und die alten Lieder singen / und die Wälder wiederklingen / fühlen wir, es muss gelingen. / Mit uns zieht die neue Zeit.“ So erklingt es wohl auf jedem Parteitag zum Abschied.
Einmal habe ich mich sehr gewundert: Ich wurde zu einem schwerkranken, etwa 85 Jahre alten Mann gerufen. Er saß aufrecht in seinem Bett und hatte große Schmerzen. Als unser Gespräch begann, fing er bald an, wie ein Rohrspatz zu schimpfen, besonders über die Ärzte: Sie haben kein Mittel gefunden, mit dem sie seine Krebs-Erkrankung heilen können. Das ist ein Skandal! Nach einiger Zeit sagte er: Aber ich habe ein Motto, und daran halte ich mich. Ich dachte schon: „Was wird das schon sein?“ Und dann zitierte er: „Ich möcht‘, dass einer mit mir geht,/ der’s Leben kennt, der mich versteht,/ der mich zu allen Zeiten / kann geleiten./ Ich möcht‘, dass einer mit mir geht. / … Sie nennen ihn den Herren Christ,/ der durch den Tod gegangen ist; / er will durch Leid und Freuden / mich geleiten./ Ich möchte‘, dass er auch mit mir geht.“ (EG 209,1+4) Dies Lied hatte dieser alte Mann nicht im Konfirmandenunterricht gelernt. Damals gab es das noch gar nicht. Das hatte er irgendwo gelesen oder gehört, und dann hat er aufgehorcht und sich gesagt: Das ist mein Lied. Das präge ich mir ein. Er zitierte es in einer Weise, die zeigte: Das war ihm aus dem Herzen gesprochen.
Noch mehr habe ich mich an einer anderen Stelle gewundert. Ich war selten in einem Rockkonzert. Aber einmal wurde im Fernsehen ein Konzert mit Herbert Grönemeyer gezeigt. Weit über 10.000 Teilnehmer dieses Konzertes waren in die große Halle gekommen. Grönemeyer machte auf der Bühne seine forschen Schritte, sang mit seiner rauchigen Stimme seine Lieder direkt in das Mikrophon, und siehe da: Ganz viele sangen mit, ohne Programmheft, ohne Gesangbuch. Sie kannten die Lieder auswendig! Fasziniert stimmten sie mit ein. Da sprach einer ihre Sprache; da berührte einer ihre Probleme; da wiegte sich einer in ihrem Rhythmus. Es riss sie von den Stühlen; sie hoben die Hände, und sie ließen ihre Stimme erklingen. Es hatte ihnen keine Mühe gemacht, diese Lieder zu lernen. So oft hatten sie sie gehört; da ging es ganz von selbst.
Dasselbe konnte und kann man bei Konzerten von Nena Kerner, der Tochter meines Sport- und Lateinlehrers, beobachten, bei Xavier Naidoo, bei Helene Fischer und bei den anderen.
Und dann sind da die Lieder in den Fußballstadien. Sage keiner, Männer könnten nicht singen! Von einem unserer Bundeliga-Vereine hörte ich: Die Anhänger haben 52 Lieder, die sie alle auswendig können und die sie, je nachdem, wie es um ihre Mannschaft steht, singen, aus voller, gut geschmierter Kehle.
Welche Lieder singe ich? Welche Sie? Ganz nüchtern gefragt: Was singe ich eigentlich, wenn ich singe? Und dann kann man ins Grübeln kommen: Welche Lieder werden unsere Kinder und Enkel, unsere Patenkinder, unsere Neffen und Nichten singen? Was sind das für Texte, was wird da ausgedrückt? Und: Was wird man in meiner Familie in 20, 40, 60 Jahren singen?
Hier im Kolosserbrief schreibt Paulus seiner Gemeinde: „Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen!“ Sprudelt bei meinen Liedern einfach heraus, was sich in meinen Gefühlen so regt? Oder hat der Geist Gottes, der Pfingstgeist etwas in mir bewegen können? Sind mir Lieder, bei deren Entstehung der Heilige Geist mit im Spiele war, ans Herz gewachsen?
Einer meiner Lehrer hat einmal dargestellt, welche Aufgaben eine christliche Gemeinde hat. 12 Punkte stellt Karl Barth hier zusammen. Punkt 1 ist: das Lob Gottes, das Singen und Musizieren in Seinem Namen. Gott anzubeten kommt vor allem anderen. Gott hat uns gerettet, und dafür sollen wir ihn preisen. Das ist der Sinn der Lieder, die der Pfingstgeist, der Heilige Geist entzündet. Dieser Geist berührt uns durch das Lesen der Bibel, durch das Hören der Predigt und auf vielfältige andere Weise. Er verbindet sich mit meinen vielfältigen Gedanken und mit meinen innersten Gefühlen. Und dann spüre ich: Das und das und das Lied passen zu mir. Da kann ich erst zögerlich, dann nachdenklich, dann frei heraus und schließlich begeistert mitsingen. Ich freue mich, wenn diese Lieder gesungen werden. Ich muss mich nicht mehr nach Jahrzehnten für die Lieder schämen, die ich gesungen habe. Neulich sagte ein weit über 80 Jahre alter Mann in einem Gemeindekreis: Ich habe die Lieder der Hitlerjugend immer noch im Kopf. Ich werde sie nicht los.
Und ein anderer weit über 80-jähriger Mann wünschte sich für den Gottesdienst in der Marienkapelle, dass wir mal wieder singen: „Du großer Gott, wenn ich die Welt betrachte,/ die du geschaffen durch dein Allmachtswort,/ wenn ich auf alle jene Wesen achte, die du regierst und nährest fort und fort, dann jauchzt mein Herz dir, großer Herrscher zu: Wie groß bist du, wie groß bist du!“ Sicher, ein „oldy“, ein Lied, das nur in gewissen Kreisen gesungen wurde und heute nur noch in wenigen Liederbüchern steht. Aber noch in unserer Zeit hat dieses Lied etwas Mitreißendes an sich.
In jedem von uns ist ein Ton angelegt, ein Ton, der mein eigener ist und der zugleich zur Ehre Gottes erklingen möchte. Ich kann den in mir angelegten Ton verfehlen, und ich kann ihn erklingen lassen und so – geführt vom Heiligen Geist – meine Lieder zur Ehre Gottes singen.
Und jetzt denke ich an ein anderes Konzert vor mehreren Jahren in der Auferstehungskirche am Kurpark in Bad Oeynhausen. Die Kirche war vollbesetzt. Gestaltet wurde es von Siegfried Fietz; von ihm stammt die Melodie des Bonhoeffer-Liedes: „Von guten Mächten wunderbar geborgen.“ 1970 hat er es komponiert. Dann weiter von Manfred Siebald; er schuf 1976 für ein großes Jugend-Festival das Lied „Leben im Schatten“, in dem der Refrain lautet: „Gott lädt uns ein zu seinem Fest, lasst uns gehn und es allen sagen, die wir auf dem Wege sehn.“ Der dritte war Clemens Bittlinger. Die Lieder wurden auf eine Leinwand geworfen. Aber viele sangen diese Lieder mit, weil sie sie kannten und konnten und weil sie schon so lange damit lebten.
Das Eine ist es, bei der Taufe eines Kindes oder Enkelkindes zu fragen: „Welche Lieder wirst du singen?“ Das andere ist es, in sich zu gehen und zu fragen: „Welche Lieder singe ich?“ Welche Lieder sollte ich heute lieber weglassen, welche Lieder sind eigentlich zu platt, um sie zu singen, – und welche Lieder sollte ich häufiger, eindringlicher, bewusster singen, weil der Heilige Geist mich für sie frei macht?
Gebet
Lied: Schmückt das Fest mit Maien (EG 135, 1-3+5)