Offb 13 – das Lamm Gottes

Das Lamm Gottes oder: Einer ist mächtiger als das Tier aus dem Abgrund

Man stelle sich vor: Am Schluss eines großen Rennens bei der Formel-1-Weltmeisterschaft steht ein Trabi als Sieger fest. Plötzlich war er mitten drin im Pulk der angetretenen Rennwagen aus der Weltspitzenklasse. Runde um Runde hielt er mit, preschte nach vorn, wurde wieder zurückgeschlagen und konnte sich doch behaupten. Die Favoriten unter den Rennfahrern ärgerten sich über das merkwürdige Gefährt, und man verwickelte es in einer gefährlichen Kurve in einen Unfall; der Trabi geriet ins Schleudern, aber er fuhr weiter und weiter; zum Schluss rollte er als erster ins Ziel. Und dann stand der Trabi – ganz deutlich konnte man noch die von dem Unfall her rührenden tiefen Schrammen und Beulen sehen – , ausgestattet mit den vier großen Rädern eines Rennwagens, den Mercedesstern vorn auf dem Kühler, im Zentrum des Jubels und im Blitzlichtgewitter der Fotografen und Kamerateams.

Ähnlich bizarr[1] und paradox ist es, wenn in der Mitte der großartigen Thronsaalvision in Offb.4-5 ein Lamm steht, dem man die Schächtungswunde noch ansieht, das sieben Hörner trägt und sieben Augen hat und dem dann die vier Lebewesen, die vierundzwanzig Ältesten, die Engel und die ganze Schöpfung anbetend huldigen (Offb.5,6-14). Der hier beschriebene Auftritt Christi ist ein Akt majestätischer Würde und überwältigender Dramaturgie. Es bedarf großer Umsicht und tiefen Verständnisses, soll diese Vision vom Lamm ihre ganze Kraft entfalten. Dabei gewinnt sie markante Konturen, wenn die Polarität zu den beiden Tieren in Offenbarung 13 in den Blick kommt.

„Siehe, das ist Gottes Lamm!“

Der Christus-Titel „Lamm Gottes“ hat eine lange innerbiblische Geschichte. Wenn Johannes der Täufer, der Vorläufer Jesu, in der ersten Begegnung mit Jesus den Satz sagt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Joh.1,29), dann vergleicht er den Mensch gewordenen Gottessohn mit einem Tier aus der Alltagswelt eines jeden Juden in der damaligen Zeit. Zusammen mit den Mutterschafen, den Böcken, Ziegen und manchen anderen Tieren gehörten die Lämmer zum täglichen Leben der Menschen in Dörfern und Städten. Die Schafherden gaben den Menschen Milch, Wolle und Fleisch und wurden von Hirten und Hirtinnen sorgfältig bewacht. Es waren Tiere, die geführt werden mussten, weil ihre Schwäche und Hilfsbedürftigkeit besonders offenbar war. Allein für sich waren Lämmer und Schafe Wölfen und Dieben wehrlos ausgeliefert. Mit einem solchen Lamm vergleicht Johannes der Täufer Jesus, den Sohn Gottes.

Nun gingen bei den Menschen zur damaligen Zeit im Volk Israel die Gedanken auch, wenn sie vom Lamm Gottes hörten, hin zu den Schafen und Lämmern, die täglich in Jerusalem zum Tempel getrieben wurden, um dort geschlachtet und dann als Brand-, Schuld- und Sündopfer feierlich im Gottesdienst dargebracht zu werden.

Weiter trat jedem jüdischen Menschen bei dem Wort Johannes des Täufers das geschlachtete Lamm in der Passahfeier vor Augen. Jedes Jahr am Sederabend feiern die Juden ihren Auszug aus Ägypten und vergegenwärtigen sich, wie  Gott ihr Schreien in der Sklaverei des Pharao gehört hat und wie er nun Plage um Plage über den Pharao und sein Volk kommen ließ. In der zehnten und letzten Plage verfügte Gott zur Mitternacht die Tötung aller Erstgeburt im ägyptischen Volk. Während dieser Nacht wurde den Juden aufgetragen, das Passahfest zu feiern. Jede Familie nahm ein Lamm, ein fehlerloses, männliches Tier, schlachtete es und bestrich mit seinem Blut die Pfosten und die obere Schwelle der Haustür. Sie brieten und aßen das Fleisch des Lammes und bereiteten sich auf den eiligen Aufbruch vor, während der Verderber (Zürcher Bibel: „Würgeengel“, Ex.12,23) im ägyptischen Volk das Strafgericht abhielt. Stellvertretend für die Menschen im jüdischen Volk wurden die Lämmer geschlachtet.

Dabei vergossen sie ihr Blut, damit die Menschen im Volk Gottes bewahrt würden und damit der Weg aus der Knechtschaft in die Freiheit gelänge. Es musste ein Lamm ohne Fehler sein. Die Israeliten durften sich, wo es um den Weg in die Freiheit ging, nicht der blinden, lahmen und kranken Tiere entledigen (siehe Mal.1,8). Nur das Beste war an diesem Tag für Gott gut genug. Für die Gewinnung des Lebens im verheißenen Land musste Leben hingegeben werden, genauso wie die Verstocktheit des Pharaos nur durch die Tötung der Erstgeburt erweicht wurde und die Schuld der Ägypter nur durch ein Leben vernichtendes Gottesgericht zu ahnden war.

Seit Jahrtausenden feiern die Juden das Passahfest; seit Jahrtausenden hat sich ihnen durch das Töten der Passahlämmer der heilige Vorgang der Stellvertretung tief eingeprägt, der den Weg in die Freiheit unter der Verheißung Gottes möglich macht. Dadurch dass Jesus das Abendmahl während der Feier des Passahmahles einsetzte, wurde er selbst zu dem Passahlamm, das stellvertretend für die Sünden der Menschen gestorben ist (vgl. 1.Kor. 5,7).

„…wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird“

Wenn Johannes der Täufer Jesus von Nazareth als das Lamm Gottes bezeichnet und wenn in der Offenbarung des Johannes das Lamm zum wichtigsten Christustitel wird, dann klingt schließlich für aufmerksame Ohren, die es gelernt haben, ihr Hören an der Heiligen Schrift zu schärfen, das Gottesknechtslied aus Jes.52,13- 53,12 an. Hier ist von einem Menschen die Rede, dessen Leidensbereitschaft mit einem Lamm verglichen wird, das man zum Schlächter führt und dessen Schweigen angesichts all des Unrechts, das man ihm antut, dem Verstummen eines Schafes vor seinem Scherer ähnlich ist.

Gerade im vergangenen Jahrhundert haben wir einen erschütternd aktuellen Bezug zu diesen Worten des Jesaja erlebt. Als in den vierziger Jahren zehntausende von Juden und Polen nackt an die Massengräber geführt wurden, um dort von Soldaten der Totenkopf-SS erschossen zu werden, fiel es den Beobachtern auf, dass sie still waren, nicht schrien und nicht protestierten. Wie Schafe, die verstummen vor ihrem Scherer (Jes.53,7), so ließen sie sich abschlachten. „Ohne Geschrei oder Weinen zogen sich diese Menschen aus, standen in Familiengruppen beisammen, küßten und verabschiedeten sich und warteten auf den Wink eines anderen SS-Mannes, der an der Grube stand und … eine Peitsche in der Hand hielt. Ich habe während einer Viertelstunde, als ich bei der Gräbern stand, keine Klage oder Bitte um Schonung gehört. Ich beobachtete eine Familie von etwa acht Personen, einen Mann und eine Frau, beide von ungefähr 50 Jahren, mit deren Kindern, so ungefähr 1-, 8- und 10-jährig, sowie zwei erwachsene Töchter von 20-24 Jahren. Eine alte Frau mit schneeweißem Haar hielt das einjährige Kind auf dem Arm und sang ihm etwas vor und kitzelte es. Das Kind quietschte vor Vergnügen. Das Ehepaar schaute mit Tränen in den Augen zu. Der Vater hielt an der Hand einen Jungen von etwa 10 Jahren, sprach leise auf ihn ein. Der Junge kämpfte mit den Tränen. Der Vater zeigte mit dem Finger zum Himmel, streichelte ihm über den Kopf und schien ihm etwas zu erklären“, so hat der Bauingenieur Hermann Friedrich Gräbe am 10.Nov. 1945 in einer eidesstattlichen Erklärung zu Protokoll gegeben, wie sich jüdische Menschen bei der Erschießung in Dubno verhalten haben[2].

In stiller, schmerzlicher Trauer und mit der Bereitschaft, uns in Scham unter die Schuld des eigenen Volkes zu stellen, hören wir von dem stummen Leiden jüdischer Menschen, in denen etwas von den Worten in Jes.53 lebendig wurde, als deutsche Männer sie hin schlachteten.

„Er ist …um unserer Sünde willen zerschlagen“

In diesen prophetischen Worten spricht das Alte Testament, die Heilige Schrift der Juden, äußerste Worte. Es müssen sehr schmerzhafte Erfahrungen damals in der babylonischen Gefangenschaft dahinter stehen, wenn der Prophet, den wir Deuterojesaja nennen, solche Worte aufschreibt und damit tröstet. Seelische, dem Menschen eigene Kräfte sind nicht mehr in der Lage, das über die Menschen hereingebrochene Leid, die verworrene Verquickung von Schuld und Krankheit und das aufgebrochene Loch der Verzweiflung zu ertragen. Da blickt der Prophet in die Zukunft und erkennt einen Kommenden. Er ist augenscheinlich nicht fehlerlos wie die während des Passahfestes und im Kult geschlachteten Opferlämmer. Nein, er ist noch tiefer in das Leid hineingezogen worden, er hatte kein schönes Aussehen, kein Gesicht und keine Gestalt, die gefallen hätte. Man verachtete ihn, schob ihn beiseite und schaute weg. Der Prophet hat deutlich vor Augen, wie der Kommende sich mitten hinein stellt in den großen Strom der Schmerzen, der Schuld, der Einsamkeit und der Ablehnung. Und dabei erkennt er: Das geschieht für uns. „Fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes.53,4f)

Weinen – Klagen – Wütendsein – Schreien

Das Gottesknechtslied sagt nicht einfach: Wir gehören hinein in die mächtige Geschichte des Leidens, zu der die immer neuen Opfer der Kriege und Revolutionen gehören, zu der die Millionen und Abermillionen Menschen gehören, die in die Sklaverei verkauft wurden und die dann als Sklaven ihr Leben fristen mussten, und zu der das Heer der Hungernden zu allen Zeiten gehört. Dazu gehören die vielen, vielen Menschen, die körperlich und seelisch krank sind oder die im Alter dahinsiechen. Da hinein gehört die inzwischen unzählig große Zahl von Kindern, deren Leben bereits im Mutterleib von Menschen jäh abgebrochen wird. Dazu gehören die ausgerotteten Völker bis hin zu dem jüdischen Volk, das man unter den Nationalsozialisten zu einem großen Teil vernichtet hat. Ja, dazu gehört das Leid der Tiere, die körperlich und seelisch Schmerz sehr wohl empfinden.

Wie viele Tränen mögen in diesem Strom des Leidens geweint werden? Wie viele Klagen mögen ausgesprochen werden? Wie viele Menschen mögen schreien, weil sie nicht mehr können und nicht mehr weiter wissen? Wie viel Kummer mag in den Herzen verdrängt und durch Medikamente betäubt werden? Was mag sich in dem Innersten der Menschen an Bitterkeit und Wut gegen Gott und die Welt ansammeln? Wie viel stummes Schreien wird gar nicht mehr wahrgenommen? Wer weiß wohin mit den Schreien nach dem Warum des Leides in dieser Welt?

Das Gottesknechtslied Jes.53 sagt nicht: Wir gehören hinein in den gewaltigen Strom des Leidens in dieser Welt. Es gibt nun einmal den Vorgang, dass sich die einen in der Rolle des Täters wieder finden und die anderen in der Rolle des Opfers. Wenn wir Opfer werden, dann lasst uns so dulden, wie es das Lied vom leidenden Gottesknecht beschreibt. Was uns trifft, das ist von Gott bestimmt. Lasst uns das aushalten! Nein, das Lied vom leidenden Gottesknecht weist einen Weg aus dem Strom des Leidens heraus. Der Gottesknecht ist hinein geworfen in den Strom des Leidens der Völker, und zugleich steht er den leidenden Menschen gegenüber und hat eine Aufgabe an ihnen. Hier in Jes.53 werden wir, gerade wenn uns Leiden getroffen haben, gelehrt und gelockt, weg zu schauen und dem Blick des Propheten zu folgen, der in der Zukunft den einen sieht, zu dem wir mit unseren Schmerzen, in unserer Krankheit, aus einer Verwirrung heraus, mit allen Verstrickungen und mit jeder Schuld kommen dürfen. An ihn sollen wir uns mit dem Keim des Todes, der tief in uns verwurzelt ist, halten, selbst dann, wenn wir in Schande geraten sind. Er hält es bei uns aus, und er führt uns durch das Leid hindurch zur Freiheit und zu neuer Ehre.

„Das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“

Das Neue Testament erzählt und sagt es in seltener Eindeutigkeit: Dieser Gottesknecht ist gekommen. Er hat, obwohl er ohne Schuld und Fehler war, gelitten. Er wurde gemartert. Er verstummte vor seinen Peinigern. Er starb und wurde zu den Verbrechern gezählt. Von Jesus redet der Prophet in seinem Lied vom Gottesknecht. Und Johannes der Täufer drückt das aus, wenn er auf Jesus von Nazareth hinweist und sagt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Joh.1,29)

Vor Jahren erzählte mir eine alte Frau eine Begebenheit aus den ersten Jahren ihrer Ehe. Sie hatte sich mit ihrem Mann gestritten und zog sich, schmollend über die Worte, die ihr Mann ihr gesagt hatte, in das Schlafzimmer zurück. Längere Zeit war sie auf ihren Mann böse. Da, so erzählte sie, habe sie in einer Vision vor sich Christus am Kreuz gesehen, und es war ihr, als sagte er zu ihr: „Dies habe ich für dich getan! Warum kannst du da deinem Mann nicht vergeben?“

Die Evangelistin Corrie ten Boom, die während der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen im 2. Weltkrieg Juden versteckt hat und deshalb verhaftet und verurteilt wurde, erzählt in ihrem Buch „Dennoch“ von einer Nacktparade im Gang des Krankenhauses des Konzentrationslagers, in dem sie gefangen war. Dass sie sich als über 50-jährige Frau vor den Augen der anderen bei dieser Kälte so entblößen musste, empfand sie als  besondere Schande. Aber dann erzählt sie weiter: „Mit einem Male sehe ich vor mir das Bild von Jesus auf Golgatha. Es kommt mir erst jetzt klar zum Bewußtsein, daß Er nackt am Kreuz gehangen hat. Wie muß Er gelitten haben, Gottes Sohn, dessen Heimat beim Vater im Himmel ist. Und Er hat für mich gelitten. Deshalb steht auch mir der Himmel offen: Er hat den Weg für mich frei gemacht. In mir wird es ruhig. Ich spüre, wie mir die Kraft kommt, auch dieses auf mich zu nehmen.“[3]

Und ein weiteres Erlebnis: Auf einem Kurs des Pastoralkollegs für Konfirmandenunterricht probierten wir aus, wie man auf Diarähmchen Rußbilder malt. Dabei wurde offenbar, dass einer von uns ganz besonders gut malen konnte. „Ja, sagte er, ich bin auch Mitglied eines Künstlerclubs und mache Radierungen“. Am nächsten Tag brachte er eine von ihm gezeichnete Grafik mit: den dornengekrönten Kopf des Gekreuzigten mit einem großen Spalt. Und dann erzählte er, wie er dazu gekommen war, dieses Bild zu malen: „Auf der Hauptstraße, die durch meine Gemeinde geht, verunglückte ein Kind tödlich. Nach dem Unfall erzählte man, dass das Kind nach dem Zusammenprall mit dem Auto einen gespaltenen Kopf hatte. Dies hat mich sehr erschüttert; tagelang musste ich an diesen Kopf denken. Es löste sich erst in mir, als ich auf den Gedanken kam, den Kopf des Gekreuzigten mit einem großen Spalt zu malen. Christus hat am Kreuz auch für dieses verunglückte Kind gelitten.“

Menschen, die so mitten im Leid und mitten in der Schuld auf den Gekreuzigten blicken, vollziehen den von Gott für Jesus bestimmten Weg der Erniedrigung und der Erhöhung nach. Er ist das Lamm, das dem Leid der Welt ausgeliefert wurde, dabei den Schmerz und den Zorn Gottes über die Sünde der Welt erlitt und so die Sünde der Welt wegtrug. Leid und Schuld können in unserem Leben eine Mächtigkeit sondergleichen entfalten. Aber ich kann dann auf die Knie gehen und beten: Jesus, lieber Herr, auch ich bin ein Mensch, für den du gestorben bist. Ich bin ein Sünder, der es nötig hat, dass du am Jüngsten Tag für ihn Fürsprache einlegst. Entweder ich gehe an meiner Schuld zugrunde, oder die Hingabe deines Lebens gilt auch für mich. Entweder ich bleibe in mir und in dem, was ich getan habe, befangen, oder du schenkst mir das Leben neu. Ich bekenne vor Gott und den Menschen, was ich getan habe und bereue es zutiefst. Danke, dass du mich „mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft“ hast „aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen“ (Offb.5,9). Du bist das Opferlamm der Geschichte.

Er hat mich vor mir selbst gerettet. Ich wäre ohne ihn zugrunde gegangen“

Kurt Ihlenfeld hat es am Ende eines langen Nachtgespräches gewagt, Rudolf Alexander Schröder zu fragen, warum er Christ ist und seit wann er Jesus lieb hat. Und dann hat Rudolf Alexander Schröder geantwortet: „Er hat mich vor mir selber gerettet. Ich wäre ohne ihn zugrunde gegangen. Seitdem liebe ich ihn.“[4] Dieser reife Mann hat erkannt, dass wir Menschen den Keim des Todes in uns selbst haben und uns früher oder später selbst zugrunde richten. Aber da ist Jesus, das Lamm, das an unserer Stelle ein für alle Mal dem Gericht Gottes hingegeben worden ist. In seiner Liebe hat es mich vor mir selbst gerettet. So tritt es an unsere Stelle und nimmt uns den tief in uns sitzenden Keim des Todes und pflanzt in unserem Innersten den Keim des Lebens. „Er nimmt auf sich, was auf Erden wir getan, gibt sich dran, unser Lamm zu werden, unser Lamm, das für uns stirbet und bei Gott für den Tod Gnad und Fried erwirbet“, so singt Paul Gerhard in seinem Weihnachtslied: „Fröhlich soll mein Herze springen.“[5]

„Ich sah ein Tier aus dem Meer steigen“

Die Rede von Christus als dem Lamm Gottes in Joh.1,29.36 und das bizarre Bild vom Lamm Gottes in Offb.5,6 bekommen andere Konturen und Tiefendimensionen, wenn man sich der Beziehung zwischen dem Bild vom Lamm zu der Vision von den beiden Tieren in Offb.13 aussetzt. Hören wir zunächst auf den ersten Teil des Kapitels: „Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen. Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie eines Löwen Rachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht. Und ich sah seiner Häupter eines, als wäre es tödlich wund, und seine tödliche Wunde wurde heil. Und die ganze Erde wunderte sich über das Tier, und sie beteten den Drachen an, weil er dem Tier die Macht gab, und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kämpfen? Und es wurde ihm ein Maul gegeben, zu reden große Dinge und Lästerungen, und ihm wurde Macht gegeben, es zu tun zweiundvierzig Monate lang. Und es tat sein Maul auf zur Lästerung gegen Gott, zu lästern seinen Namen und sein Haus und die im Himmel wohnen. Und ihm wurde Macht gegeben, zu kämpfen mit den den Heiligen und sie zu überwinden; und ihm wurde Macht gegeben über alle Stämme und Völker und Sprachen und Nationen. Und alle, die auf Erden wohnten, beten es an, deren Namen nicht vom Anfang der Welt an geschrieben stehen in dem Lebensbuch des Lammes, das geschlachtet ist. Hat jemand Ohren, der höre!“ (V.1-9)

Wer ist das Tier, das aus dem Meer steigt? Was wird hier in grellen, dunklen Farben gemalt? Wie ist dieses Bild entstanden und was löst es heute aus? Das Furchtbare an dem 13. Kapitel ist, dass es hier um die Entfesselung einer chaotischen, zerstörerischen Macht geht. Dabei steht diese Entfesselung in einem inneren Zusammenhang mit dem Weg der Unscheinbarkeit und Machtlosigkeit, den Gott in seiner Liebe zur Welt bei der Geburt seines Sohnes gegangen ist. Was im Kindermord von Bethlehem, der zum Geschehen der Weihnacht dazu gehört, schon auf dem Plan ist, was dann in der Passionsgeschichte durch das Zusammenwirken des Hohen Rates der Juden und des römischen Statthalters den Tod Jesu bewirkte, was weiter in der Geschichte der jungen Christenheit zu den ersten Verfolgungen geführt hat, genau das vollendet sich in der Vision von der Machtergreifung der beiden Tiere in Offenbarung 13.

„Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit“

Bevor man das Schaudervolle dieses Kapitels darstellt, muss die ganze Macht und Herrlichkeit (Luk.4,6) dieser widergöttlichen, antichristlichen und dämonischen Herrschaft gesehen werden. Genau diese Herrschaft wurde von Satan Jesus in der Versuchungsgeschichte versprochen, und Jesus hätte diese Macht auch haben können, wenn er bereit gewesen wäre, den Satan anzubeten. „Denn nur ein sich in einen Lichtglanz verhüllender (2.Kor.11,14), nur ein das Gute vortäuschender ‚Teufel‘ kann verführerisch wirken“, schreibt Hans-Joachim Iwand in seiner Meditation zu Mt.4,1-11[6]. Wo immer jemand im Sinne des ersten und des zweiten Tieres handelt, da vermag er Macht und Religion, Prophetie und Wissenschaft zu vereinigen, da bringt er Menschen zum Staunen und da gewinnt er ihre religiösen Gefühle, da begeistert er die größten Köpfe seiner Zeit für sich, da verbindet er konträre gesellschaftliche Schichten und da vereinigt er verfeindete Völker. Alle, die sich gewinnen lassen, können leben und arbeiten und werden versorgt. Hier wird ein Weg gewiesen aus allem Zwiespalt und aus aller Verwirrung, aus allen Krisen, Konflikten und Katastrophen heraus. Viele lassen sich durch das Imponierende dieses Reiches blenden.

Aber das erste Tier hat seine Macht nicht von oben, sondern von unten. Nach Offb.13,1 steigt es auf aus dem Meer, nach Offb.11,7 aus dem Abgrund. Es vermag die Abgründe der Geschichte aufzuschließen und für seine eigenen Ziele nutzbar zu machen. Und so zieht es die Menschen an, die in sich das Loch der Leere und der Verzweiflung kennengelernt haben und seiner Faszination nicht ausweichen können. Das Tier ist die Antwort der gegengöttlichen Kräfte auf das Kommen des Lammes. Wo Gott zum Heil der Welt seinen Sohn Jesus Christus in die Welt gesendet hat, damit das Reich der Himmel mitten auf der Erde verkündigt wird und sich ausbreitet, da brauen die satanischen Mächte das Tier, den Antichristen, zusammen, lassen ihn in ihrem Namen sein Imperium bauen und sorgen so dafür, dass das Böse in der Geschichte unserer Welt ausreift.

Wenn es von dem Tier heißt: Es „war gleich einem Panther und seine Füße“ waren „wie Bärenfüße und sein Rachen wie ein Löwenrachen“ (c.13,2), dann werden zusammengerafft die Raubtiere aus Dan.7,3-6 zitiert, die die streitbare, räuberische und mörderische Gewalt symbolisieren, die menschliche Herrscher und irdische Staaten kennzeichnen können und die oft genug zu einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen ihnen und den christlichen Gemeinden geführt haben.

Es ist nicht verkehrt, bei Löwe, Panther und Bär in Offb.13,2 an die Raubtiere als Symbole der Macht in Wappen und an Regierungsgebäuden zu denken, z.B. an den Löwen von Herzog Heinrich in Braunschweig, an den Bären im Berliner Wappen und an den Seeadler im Reichstag in Berlin. Macht ist nötig, um menschliches Zusammenleben zu steuern und dem Chaos zu wehren, und sie ist nicht an sich böse. Aber politische Macht kann zu hektischer, brutaler und gefräßiger Macht verkommen.

Karikatur – Usurpation – Verhöhnung

Erst wo jemand das Handeln Gottes in Jesus Christus, dem Lamm Gottes, erkenntnismäßig durchdrungen hat, vermag er auch die Struktur einer zerstörerischen Herrschaft, wie sie in Offb.13 beschrieben wird, zu durchschauen. Dieses tierische Ungeheuer, das einem Panther, einem Löwen und einem Bären gleicht, karikiert mit seinen zehn Hörnern und sieben Häuptern Christus, der in Offb.5,6 als ein Lamm mit „sieben Hörner(n) und sieben Augen“ geschaut wird. Es ist der satanische Gegenspieler Christi und damit Gottes in der Art und Weise, wie es die Weltherrschaft Gottes usurpiert und die Thronbesteigung Christi parodiert (V.2). Es ahmt den Weg des gekreuzigten und auferweckten Jesus nach in der Art und Weise, wie es zu Tode getroffen ist und dann wieder aufersteht (V.3), wie es also trotz gefährlicher Krisen seine Kraft und seinen Einfluss ständig erweitert. Und es konkurriert mit dem Gottes- und Menschensohn in der Weise, wie es Menschen zur Anbetung des Drachen und seiner selbst bringt (V.4).

Die Frage: „Wer ist dem Tier gleich, und wer kann wider es kämpfen?“ (V.4) ist eine Verhöhnung der biblischen Vorlage in 2. Mose 15,11. Aus dem Lied der Mirjam, das den Sieg Gottes über die Ägypter besingt, wurde ein Ausruf, der den Sieg Satans über die Heiligen proklamieren soll.

Hier wird von Satan gesteuert im Bereich des Politischen genau das gefordert, was allein Gott zusteht. So wird die Masse der Menschen dazu gebracht, nicht mehr nach Gott zu fragen, nicht mehr seinen Verheißungen zu vertrauen und nicht mehr seinen Geboten zu gehorchen. Die Missachtung Gottes, die Lästerung seines Namens, das Niederfallen vor einem selbstgemachten Bild, der Missbrauch und die Tötung von Menschen, die Verfolgung der Heiligen – all das gehört zur Machtentfaltung des Tieres aus dem Abgrund dazu.

In dem Reich des Tieres wird der Ungehorsam gegen die Gebote Gottes zu einem wichtigen Element des gesellschaftlichen Systems. Dabei ist das Aufkommen eines solchen Regimes nur dort möglich, wo Menschen durch eine Verfälschung des Schöpfungsauftrages Gottes die Scheu vor der Natur und die Achtung vor allem Leben verloren haben. Es kommt nur dort so weit, wo Menschen, die die großartige Freiheit des Glaubens geschmeckt haben, fortgesetzt den Ungehorsam wählten. Nur dann ist solch eine diktatorische Herrschaft möglich, wenn sich die Mächte dieser Welt, weil Gott bei dem Weg der Erniedrigung seines Sohnes den Weg der Machtlosigkeit gegangen ist, entfesseln können. Mitten in der Gesellschaft sind Schleusen des Verderbens geöffnet worden. Die Menschheit vereinigt sich im Abfall von Gott, in der Lästerung seines Namens, in der Nachäffung seines Heilsweges und in der Vernichtung seiner Gemeinde.

„Ein zweites Tier…, das hatte zwei Hörner wie ein Lamm“

Auf das erste Tier in Offb.13 folgt das zweites Tier. Von ihm heißt es: „Und ich sah ein zweites Tier aufsteigen von der Erde, das hatte zwei Hörner wie ein Lamm und redete wie ein Drache. Und es übt alle Macht des ersten Tieres vor seinen Augen, und es macht, daß die Erde und die darauf wohnen, anbeten das erste Tier, dessen tödliche Wunde heil geworden war. Und es tut große Zeichen, so daß es auch Feuer vom Himmel auf die Erde fallen läßt vor den Augen der Menschen; und es verführt, die auf Erden wohnen, durch die Zeichen, die zu tun vor den Augen des Tieres ihm Macht gegeben ist; und sagt denen, die auf Erden wohnen, daß sie ein Bild machen sollen dem Tier, das die Wunde vom Schwert hatte und lebendig geworden war. Und es wurde ihm Macht gegeben, Geist zu verleihen dem Bild des Tieres, damit das Bild des Tieres reden und machen könne, daß alle, die das Bild des Tieres nicht anbeteten, getötet wurden. Und es macht, daß sie allesamt, die Kleinen und Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Sklaven, sich ein Zeichen machen an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn, und daß niemand kaufen oder verkaufen kann, wenn er nicht das Zeichen hat, nämlich den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens. Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tieres; denn es ist die Zahl eines Menschen, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.“ (V.11-18)

Das zweite Tier, das von der Erde aufsteigt, ist in vielem dem ersten Tier gleich und wirkt mit ihm zusammen. Und doch gibt es charakteristische Unterschiede. Wenn es von ihm heißt: „das hatte zwei Hörner wie ein Lamm und redete wie ein Drache“, dann ist damit das Wort Jesu aus Mt.7,15 aufgenommen: „Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.“ Es imitiert zunächst die Gewaltlosigkeit und erscheint auf den ersten Blick als harmlos. Es stellt vordergründig das Gute, die Sanftheit und die Unterordnung vor Augen.

Wenn es von dem zweiten Tier heißt: „Es tut große Zeichen, so daß es auch Feuer vom Himmel auf die Erde fallen läßt vor den Augen der Menschen“, dann wiederholt es die prophetischen Gerichtszeichen eines Elia und eines Elisa, die Jesus seinen Jüngern zu tun verbot (1.Kön.18,38; 2.Kön.1,10-12; Luk.9,54-56). Die Frage der Jünger, ob sie Feuer auf das Samariterdorf fallen lassen und damit das Gericht Gottes auslösen dürfen, offenbart sich hier als eine dem Geist Jesu widersprechende, zutiefst antichristliche Möglichkeit, vor der sich das zweite Tier nicht scheut. Jesus lässt nicht über Menschen Feuer vom Himmel fallen. Das ist seinem Wesen und seinem Geist zutiefst fremd. Aber aufgrund seiner ihm verliehenen Vollmacht verfügt der falsche Prophet über faszinierende, zerstörerische Kräfte, und er setzt sie ein, um die verführbare und verwirrbare Menschheit zur Anbetung des Tieres zu bringen.

Ganz bewusst vollbringt das zweite Tier Zeichen im Grenzbereich zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, so dass es aussieht, als sei es mit Gott im Bunde, als mache es Unmögliches möglich und als wage es das Äußerste. Folgerichtig wird dieses zweite Tier an drei weiteren Stellen des Buches der Offenbarung (s. Kapitel 16,13; 19,20; 20,20) als der falsche Prophet bezeichnet. Wer also das letzte Buch der Bibel liest, muss es lernen, zwischen wahrer und falscher Prophetie zu unterscheiden, wo immer er auf den Anspruch eines Menschen, Prophet zu sein, trifft.

Eine antichristliche Kultgemeinde

In dem Bild von dem zweiten Tier, dem falschen Propheten verwirklicht sich das Urteil Gottes über den gefallenen Menschen aus der Geschichte vom Turmbau zu Babel: „Nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.“ (1.Mose 11,6b) Auf eigene Faust kann jetzt der Mensch die Zeichen  prophetischer Vollmacht und göttlichen Gerichts vor den gaffenden Menschenmassen  mit seinen eigenen gigantischen Mitteln auslösen. So weit fordert er Gott heraus. Hier vollendet sich, was im Alten und Neuen Testament von falscher Prophetie zu lesen ist. Wie Johannes der Täufer mit seinem Satz: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“ auf Christus hinweist, so weist das zweite Tier auf das erste Tier: Betet das Tier an! Macht ihm ein Bild! Bindet euch auf  Gedeih und Verderben an das Tier! (V.15)

Das Reden und die Verführungskraft des falschen Propheten schließen die verführbare Menschheit zu einer antichristlichen Kultgemeinde zusammen. Was mit der Sanftmütigkeit und Friedfertigkeit eines Lammes, mit bestaunenswerten Zeichen und Wundern und mit stürmischer Begeisterung anfängt, das endet mit lückenlosem Terror. Nur diejenigen, die sich das Zeichen des Tieres haben aufprägen lassen, können kaufen und verkaufen (s. V.17). Den anderen ist die wirtschaftliche Basis entzogen. Die Menschen, die sich dazu haben bringen lassen, über das Tier zu staunen und es anzubeten, haben ihr Gefühl und ihr Gewissen, ihre Ehre und ihren Glauben verkauft. Sie meinen, sie würden leben, und sie sind doch der Welt der Sünde, des Todes und des Teufels verfallen. In der Bindung an das Tier werden sie alle eins, „die Kleinen und die Großen, die Reichen und die Armen, die Freien und die Knechte“ (V.16).

Eine Gegengemeinde zur Gemeinde Jesu Christi ist entstanden, in der ebenfalls die Maxime von Gal.3,28 gilt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau.“ Alle die Unterschiede, die zu so vielen Ungerechtigkeiten, Unterdrückungen und Revolutionen auf der Erde geführt haben, sind durch den falschen Propheten und seine Propaganda überwunden. Die Menschen haben sich voneinander abgesetzt, übereinander erhoben, einander ausgebeutet oder gegenseitig angehimmelt; jetzt hat das Malzeichen sie alle gleich gemacht.

„Wenn ein anderer wird in seinem eigenen Namen kommen, den werdet ihr annehmen“

Ohne Rücksicht vergreift sich das zweite Tier an der Ehre Gottes und an dem Gut und Leben der Menschen. Hier ist derjenige am Werk, der den Ungehorsam gegen Gott lehrt, der zum Ungehorsam gegen Gott verführt und der zum Ungehorsam gegen Gott drängt. Ein Reich wird errichtet, in dem Gott nichts mehr zu sagen haben soll, in dem sein Geist unterdrückt wird und in dem die Gewissen verstummen. Hier wird das Heilige verlästert und die Wahrheit verleugnet. Glaube und Gottesfurcht ersterben, die Liebe erkaltet und die Hoffnung auf Errettung und ewiges Leben gilt nichts mehr. Das Tier und sein Prophet sammeln die Menschen, „die der Wahrheit nicht glaubten, sondern Lust hatten an der Ungerechtigkeit“ (2.Thess.2,12).

Es erfüllt sich die Ankündigung Jesu: „Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen.“ (Joh.5,43) In den Zeiten, wo diese beiden Tiere zum Zuge kommen, werden die Menschen so geprüft, dass sie entweder ein klares und ganzes Ja zu Jesus sagen oder ein klares und ganzes Ja zu dem Tier. Jetzt wird es keine Unkenntlichkeit mehr geben. Ein Mensch trägt entweder das Siegel Christi (2.Kor.1,22; Eph.1,13; Off.7,3), oder er trägt das Malzeichen des Antichristen. „Indem so das Nebeneinander und Gegeneinander des wahren Christus Gottes und seines verführerischen Gegenbildes heraustritt, ist die Endzeit angebrochen. Denn das vollendete Gegenüber von Christus und Antichrist ist die Signatur der Endzeit“, bekräftigt Hans-Joachim Iwand[7]. In der Geschichte seiner Versuchung musste sich Jesus von Nazareth mit seiner ganzen Person zwischen der Möglichkeit, als Antichrist zu herrschen, und seinem ihm von Gott gewiesenen Weg der Machtlosigkeit entscheiden. In Offb.13 wird deutlich gemacht, dass ein anderer den von ihm abgewiesenen Weg geht.

 

Im Jahre 1938 dichtete Reinhold Schneider das Sonett:

„Der Antichrist

Er wird sich kleiden in des Herrn Gestalt,

Und Seine heilige Sprache wird er sprechen

Und seines Richteramtes sich erfrechen

Und übers Volk erlangen die Gewalt.

 

Und Priester werden, wenn sein Ruf erschallt,

Zu seinen Füßen ihr Gerät zerbrechen,

Die Künstler und die Weisen mit ihm zechen,

Um den sein Lob aus Künstlermunde hallt.

 

Und niemand ahnt, daß Satan aus ihm spricht

Und seines Tempels Wunderbau zum Preis

Die Seelen fordert, die er eingefangen;

 

Erst wenn er aufwärts fahren will ins Licht,

Wird ihn der Blitzstrahl aus dem höchsten Kreis

Ins Dunkel schleudern, wo er ausgegangen.“[8]

 

In dem 13. Kapitel der Offenbarung werden dem Seher Johannes die Augen geöffnet, um die Verquickung einer selbstherrlichen Politik mit einer hörigen Religion zu durchschauen. Wer dieses Kapitel liest, wird sensibel gegenüber Reden, Phrasen und Ideologien, die die Macht und die Hoheit Gottes verlästern. Der Mensch war als Ebenbild Gottes geschaffen, und nun liegt er vor den bestialischen Mächten auf den Knien. Friedrich Schleiermacher hat den Satz geprägt: „Ohne Divinität wird die Humanität zur Bestialität.“[9] Indem die Menschheit das Tier aus dem Abgrund anbetet, sinkt sie unter das Tier hinab. So sehr wurde sie von der Macht und Herrlichkeit des Tieres geblendet und verführt. „Das wahre Wunder“ in der Versuchungsgeschichte Jesu (Mt.4,1-11) „liegt aber darin, daß der Mensch Jesus, im Gehorsam gegen Gott, den Bösen enthüllt und schlägt und damit die Pforten zum Paradiese wieder öffnet“, schreibt Hans-Joachim Iwand[10].

Der römische Statthalter und die Provinzialpriesterschaft

Das Buch der Offenbarung des Johannes wurde während der Verfolgung unter Kaiser Domitian geschrieben. Durch ihre Deutung der Zeit sollte dieses Buch die bedrängten Christengemeinden in Kleinasien trösten. Nun bekamen die Christengemeinden in Kleinasien, an die das Buch der Offenbarung des Johannes geschrieben war, die Schrecken ihrer Zeit von zwei Seiten zu spüren, von dem Statthalter des Kaisers, der in der Provinz Gewalt über Leben und Tod hatte, auf der einen Seite und von der Priesterschaft des römischen Kaiserkultes in den Hauptstädten der Provinz auf der anderen Seite. Diese Priester riefen zu dem Weihrauchopfer für den Kaiserkult auf, priesen es an und suchten die Menschen dafür zu gewinnen. Sie meldeten aber auch die Menschen, die das Opfer verweigerten, dem römischen Statthalter, der sie oft genug aburteilte und töten ließ.

Es ist hier nicht der Ort, den maßlosen Anspruch des Imperium Romanum darzustellen. Zu seiner Geschichte gehören die sich steigernde Korruptheit der Kaiser und ihrer Beamten in Rom, die Brutalität der Beamtenschaft in den Provinzen und das Verhalten der Priester an den Stätten des Kaiserkultes. Offb.13 legt in dem Miteinander der beiden Teile des Kapitels und in dem Zusammenwirken des ersten und des zweiten Tieres dieses grausame Zusammenspiel von Statthalter und Priesterschaft, von Politik und Propaganda, von staatlicher Macht und Religion, von großer Härte und von geschickter Überzeugungsarbeit, so wie es die Christen in Kleinasien erleben, bloß und deutet es für die Erkenntnis des Glaubens als antichristliche Machtentfaltung, die kommen muss.

Wolfgang Schrage fasst seine Auslegung von Offb.13 folgendermaßen zusammen: „Aus der apokalyptischen Perspektive des Sehers und damit Gottes ist das Imperium Romanum die Kumulation aller Scheußlichkeit und widergöttlichen Macht früherer Weltreiche. Es ist zu einem einzigen Raubtier geworden, das alles verschlingt und in bestialischen Formen zutage tritt. Ohne Bild: es ist die entartete politische Macht.“[11]

Offb.13 offenbart dieselbe Machtkonstellation, die auch in der Passion Jesu am Werk war. Die Kreuzigung Jesu wurde geplant und vollstreckt von Pilatus, dem Statthalter des Cäsars, von dem einer falschen Prophetie des Kaiphas folgenden Hohen Rat, von dem verhassten König Herodes, von dem verführten Volk auf der Straße, von dem zum Verrat bereiten Jünger Judas und von dem in allen wirkenden Satan – eine schreckliche, verlogene Koalition. Genauso koalieren in Offb.13 die entfesselte Staatsgewalt, die falsche Prophetie der verführten Kirche, das verwirrte, selbstsüchtige Volk und der triumphierende Satan, um Gott zu lästern und um seine Heiligen zu vernichten. Heinrich Jung-Stilling deutet das Zusammenwirken des Drachen mit den beiden Tieren als satanische Dreieinigkeit[12].

Entartete Politik und falsche Prophetie

Aber nun enthüllt dieses Kapitel Offb.13, das zur Zeit des Kaisers Domitian (ca. 95/96 n.Chr.) geschrieben wurde, geschichtliche Prozesse über die Zeit der ersten Konfrontationen zwischen früher Christenheit und römischem Weltreich hinaus. Offb.13 bietet einen Deuteschlüssel für jede Form des gefährlichen Zusammenspiels von entarteter Politik und falscher Prophetie, von brutaler Gewalt und geistreicher Überzeugungsarbeit, von äußerlicher Machtentfaltung und innerer religiöser Bindung an. Dass sich der Bereich des Politischen so entfesseln und so entarten kann, wie es Offb.13 aufdeckt, muss eine Christenheit wissen, die sich bisher in ihrer politischen Ethik mehr an Röm.13,1-7 orientiert hat. Gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es an der Zeit, dass studierte Theologen und engagierte Christen dem Kapitel Offb.13 genauso viel Aufmerksamkeit zuwenden wie dem Kapitel Röm.13. Röm.13 darf den Blick auf Offb.13 nicht verstellen. Für denjenigen, der Offb.13 kennt, ist aber auch Röm.13 nicht einfach erledigt.

Von einer politisch legitimen Regierung schreibt Paulus, der Apostel: „… sie trägt das Schwert nicht umsonst; sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut“ (Röm.13,4). Sie bedroht zu Recht einzelne Gesetzesbrecher, darüber hinaus natürlich auch Terrororganisationen, die in mehreren Ländern agieren.

Solange sich ein Staat nicht absolut setzt und die Religion seiner Bürger achtet, solange man in ihm mit Petrus sagen kann: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apg.5,29), solange im Staat die Mächtigen nach ihrem Gewissen fragen und handeln, solange sie für Frieden und Gerechtigkeit sorgen und solange sie für die Armen eintreten, muss der Staat als von Gott zum Wohl der Menschen und zur Erhaltung der Schöpfung eingesetzt angesehen werden. Die christlichen Gemeinden sind dann aufgerufen, für diesen Staat zu beten; einzelne Christen können und werden in ihm Verantwortung in den unterschiedlichsten Bereichen übernehmen, und die Kirchen mögen mit einem solchen Staat auf verschiedenen Feldern des gesellschaftlichen Lebens  kooperieren.

Gerade wenn der Staat den eigenständigen Raum der Kirchen und Religionsgemeinschaften schützt, wenn er die Verkündigung des Evangeliums fördert, wenn er die Zusammenarbeit mit den Kirchen im Sozialwesen und im Bildungsbereich will, wenn er auf die Stellungnahmen der Kirchen in politischen Fragen wert legt – all das lässt sich von der Bundesrepublik Deutschland sagen -, gerade dann muss die Kirche all das an Weisung und Warnung in der Öffentlichkeit sagen, was sie sagen kann. Aber Reinhold Schneider schrieb schon 1954 zu Recht: „Unaufhaltsam spielt sich vor unseren Augen ab die sich steigernde Satanisierung der Macht. Wohl werden noch echte Freiheitswerte in ihrer Dramatik und Bedeutung proklamiert und gefordert. Ich erinnere an das schöne Wort von Theodor Heuß: ‚Die äußere Freiheit der Vielen lebt aus der inneren Freiheit der Einzelnen‘: ohne Zweifel ist das die einzige heute mögliche Grundlage der fast zerredeten Demokratie. Aber jener Prozess wirkt sich auf allen Lebensgebieten aus, und zwar mit dreifacher Tendenz: in der Aufhäufung der Vernichtungspotenz, …in der Bedrohung und Zerstörung der Freiheit und damit der Sittlichkeit; in dem Wahne des Menschen, eigenmächtiger Eigentümer der Schöpfung zu sein: das heißt zu sein wie Gott.“[13]

Die Satanisierung der Macht

Die politische Ethik der letzten Jahrhunderte hat seit Martin Luther auf immer neue Weise beschrieben, wie Gott die Welt auf zweifache Art und Weise zu erhalten und zu regieren vermag, durch die staatliche Gewalt auf der einen Seite und durch das in der Kirche verkündigte Wort auf der anderen Seite. Aber nach Offb.13 versucht auch der Gegenspieler, der Satan, auf zwei verschiedene, aber ineinander greifende Weisen eine totale irdische Ordnung aufzurichten. Dies ist die Warnung von Offb.13 mit der Vision von den beiden Tieren. Zugleich ist es besonders im 20. Jahrhundert die Erfahrung der Christen und Christinnen, die auf den Anfang und das Ende nationalsozialistischer Herrschaft unter Adolf Hitler und kommunistischer Herrschaft unter Josef Stalin und seinen Nachfolgern zurückblicken. In ihrer Mitte, um sich herum und in der weiten Welt verstreut sehen sie noch viele Menschen, die unter den in diesen Diktaturen geschlagenen Wunden bis heute  leiden.

Adolf Hitler, dieser Sohn aus unserer Mitte, diese Ausgeburt des christlichen Abendlandes, dem auch Massen von Christen religiöse Verehrung zukommen ließen, war das genaue Gegenteil zu Jesus von Nazareth, dem Messias Israels und dem Heiland der Welt. Der 2. Weltkrieg, Buchenwald, Dachau und Auschwitz – das hat Jesus Christus nicht verursacht. Dies alles geschah mitten in einer lau gewordenen Christenheit, die die Welt als Schöpfung und den Menschen als Gottesebenbild nicht mehr achtete, die den Gehorsam gegen die Gebote Gottes nicht mehr einübte, die die von Gott geschenkte Freiheit missbrauchte, die sich ihre Schuld nicht mehr aufdecken und vergeben ließ und die ihre Gedanken nicht gefangen nehmen ließ unter den Gehorsam Christi.

Sehr prägnant in der Abwehr ist da der Anfang der „Barmer Theologischen Erklärung“, formuliert von der Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahre 1934: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“[14]

Im Rückblick auf die Bombardierung der Stadt Siegen am 16.Dez.1944, bei der auch die Nikolaikirche in Schutt und Asche fiel, schrieb der Pfarrer Lic. theol. Hermann Schlingensiepen folgendes Bußgedicht:

„Sanken Kirchen mit in Trümmern,

Straft Gott auch der Christen Schuld,

Wer sich Seinem Grimme beugte,

Spürt im Feuer noch die Huld.

 

Sollt Sein Wort schon nicht mehr gelten,

Blieb es dennoch auf dem Plan,

Und wo wir verstummen wollten,

Trieb es uns aufs Neue an.

 

Um ein Neues zu beginnen,

Stellt Er uns auf freien Raum.

Wer sich jetzt Ihm weigern wollte,

Fände wohl Geduld noch kaum.

 

Prüfe jeder seine Wege,

Der Versucher feiert nicht,

Stürzten wir doch all‘ ins Dunkel,

Siegte nicht das ewge Licht.“[15]

 

Leider sind wir die antichristliche Gestalt eines Adolf Hitler nicht los. Viel zu viele alte und junge Menschen heute wählen sie sich als Vorbild, hängen seiner Rassenlehre an und versuchen dafür zu kämpfen, dass bei uns und in anderen Ländern Macht wieder in nationalsozialistischer Manier verwaltet wird. Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind die rechtsradikalen Gruppen und Parteien in unserem Land wieder erstarkt, drängen in die Öffentlichkeit und propagieren rücksichtslos ihre nationalistischen Ziele.

Jedes Engagement von einzelnen Christen oder von ganzen Kirchen auf der politischen Ebene muss sich stets neu prüfen lassen, ob es im Geiste Jesu Christi oder im antichristlichen  Geiste, im Gehorsam gegen Röm.13 oder im Geiste von Offb.13, in der Nachfolge des Lammes oder in der Anbetung des Tieres geschieht.

Wehe wenn eine Gemeinde durch Gesetze, durch notwendige Geldmittel und durch gesellschaftliche Anerkennung so an die Mächtigen gebunden ist, dass sie eine heraufziehende Kooperation zwischen eigenmächtiger Politik und falscher Prophetie gar nicht erkennt. Und wehe wenn sich die Kirche, sollte sie die Satanisierung der Macht und die Verfälschung des Prophetischen durchschauen, nicht mehr den Freiraum schaffen kann, die Wahrheit beim Namen zu nennen und das Nötige zu tun. Die Kirchen in der Bundesrepublik, die sich vom Staat schützen lassen und die immer noch staatstragende Institutionen sind, korrumpieren sich selbst, wenn sie sich nicht stets prüfen, ob ihr Dienst im Staat von Röm.13 her zu verantworten ist oder ob sie sich an einer sich „steigernden Satanisierung der Macht“ mit schuldig machen.

Gerade der säkular gewordene und von den Prinzipien der Französischen Aufklärung her gestaltete Staat schwächt und verstellt die äußerst wichtige Unterscheidung zwischen einer politischen Mitverantwortung als Lebensäußerung gelebter Nachfolge Jesu Christi auf der einen Seite und politischer Agitation im antichristlichen Geist auf der anderen Seite.

Ebenso mögen alle Christen und Christinnen, die sich in Bürgerrechtsbewegungen oder in alternativen Gruppen politisch engagieren und sich auf unkonventionelle Art und Weise für mehr Gerechtigkeit in unserer Welt einsetzen, immer neu fragen, ob sie nötige Korrektur für einen Staat sind, der „nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“ (Barmer Erklärung, These 5)[16], oder ob sie mit fragwürdigen Argumentationen, mit illusionären Zielen und mit vermeintlich prophetischer Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen auf ihre Weise die gesellschaftlichen Konflikte anheizen und so zu dem gefährlichen Zusammenspiel von falscher Prophetie und entfesselter Politik beitragen.

Das Lamm und der Löwe

In dem Buch der Offenbarung ist die Zeit der Machtergreifung des ersten Tieres begrenzt. So gewaltig, gefräßig und gotteslästerlich seine Herrschaft auch ist, es kommt der Tag, an dem es von dem Lamm überwunden wird. Die Offenbarung beschreibt Christus nicht nur als das wehrlose und verwundbare Lamm in seiner Niedrigkeit, sondern auch als den Löwen aus dem Stamm Juda in seiner Hoheit. Bevor das Lamm mit den sieben Hörnern in dem himmlischen Thronsaal erscheint (Offb.5,6), wird es dem Seher Johannes von einem der 24 Ältesten mit den Worten angekündigt: „Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, das Buch aufzutun und seine sieben Siegel“ (Offb.5,5). „Lamm“ und „Löwe“ – in diesen beiden Versen sind diese beiden Titel streng aufeinander bezogen. Der Christus-Titel „Löwe“, der nur hier im Neuen Testament vorkommt, ist im Judaspruch der Segensworte Jakobs über seine zwölf Söhne  (1.Mose 49,9) vorgeprägt. Schon hier ist verheißen, dass dem Stamm Juda die Herrschaft über das Volk Israel zufallen wird, dass die Herrschaft beim Stamm Juda bleiben und dass aus dem Stamm Juda der messianische Held kommt, dem auch die Völker anhangen werden.

Ferner wird in diesem Wort des Ältesten in Offb.5,5 der Name Davids genannt, des Sprosses aus dem Stamme Juda, der als König Israels 1.000 Jahre vor Christi Geburt ein Großreich im vorderen Orient bilden konnte. Und schließlich wird auf die Verheißung Jes.11,1 zurückgegriffen: „Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.“ Auch wenn der mächtige Stamm Juda, der einen König David hervorgebracht hat, in den Gottesgerichten der Geschichte abgeschlagen worden ist, ist ihm verheißen, dass der Stumpf neu ausschlagen wird. Dieser neue Trieb aus dem Geschlecht Juda und aus der Wurzel Davids ist Christus. Ohne Einschränkung und absolut wird bereits in Offb.5,5 von Christus, dem Lamm Gottes, gesagt: Er ist der Sieger! Als solcher ist er dazu bestimmt, das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen, die Geheimnisse der Geschichte zu enthüllen und in Macht und Herrlichkeit sein Reich aufzurichten.

Der Akt der feierlichen Inthronisation Christi

Was hier in Offb.5 beschrieben wird, ist der Akt der feierlichen Inthronisation Christi als des verborgenen Herrn der Geschichte. Man wird es wagen dürfen, diese Szene zu datieren, und sagen: Hier geschieht, was im Zusammenhang mit Jesu Abschied von der Erde bei seiner Himmelfahrt geschehen ist, als er seinen Jüngern sagte: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden!“ (Mt.28,18) Jetzt, nachdem er gekreuzigt und auferweckt wurde, hat Christus seinen Platz zur Rechten Gottes eingenommen. Sein Heilswerk auf der Erde ist vollbracht. Er ist zurückgekehrt zum Vater.

Das Lamm steht dort „wie geschlachtet“ (V.5). Es trägt weiter die Wundmale der Kreuzigung an seinem Leibe. Deshalb bleibt es mit den Schmerzen und Grausamkeiten dieser Erde vertraut. Auch in Zukunft steht es in der Leidensgemeinschaft mit allen Erschlagenen und Erschossenen, mit allen Gequälten und Gefolterten. Es bietet seine Nähe denen an, deren Seele verletzt und deren Herz gebrochen ist. Gerade der Titel „das Lamm“ macht deutlich, dass Gott in der Sendung seines Sohnes den Weg der Erniedrigung und der Schwäche gegangen ist und weiter geht. Er hat alle Distanz aufgegeben, jeden Schutz abgelegt und sich verwundbar gemacht. Er ist sanftmütig, friedfertig und ohnmächtig geworden. Das Lamm steht auf der Seite derer, die um ihres Zeugnisses für Gott willen zu den Opfern der beiden Tiere geworden sind, weil ihr Name von Anfang der Welt an in dem Lebensbuch des Lammes, das erwürgt ist, eingetragen ist.

Jesus ist Sieger!

Es wird zu einem letzten Kampf zwischen dem Tier aus dem Abgrund und den ihm verbündeten Königen auf der einen Seite und dem Lamm auf der anderen Seite kommen, aber das Lamm wird sie überwinden und Sieger sein, „denn es ist der Herr aller Herren und der König aller Könige“ (Offb.17,14). Es wird die, die aus der großen Trübsal gekommen sind, weiden und leiten zu den lebendigen Wasserquellen (Offb.7,17). Und dann wird die Hochzeit des Lammes gefeiert mit allen, die das Kleid der Gerechtigkeit angezogen haben (Offb.19,7). Der Auftritt des Lammes mit der Wunde, den sieben Hörnern und den sieben Augen bietet ein bizarres Bild wie der Trabi als Sieger in dem großen Rennen der Formel-1-Weltmeisterschaft. Und doch sind in diesem Bild aus der Vision des himmlischen Thronsaals in Offb.4 und 5 nur die Erniedrigung und die Erhöhung Jesu Christi aufgemalt. Sein Lebensweg macht deutlich, wie Demut und Hoheit, Schwäche und Vollmacht, Opfer und Sieg, Einsamkeit und Gemeinschaft bei IHM und darum überhaupt aufeinander bezogen sind und zusammengehören. Für die bloße Vernunft ist das Lamm ein unverständliches Paradox. Aber für die Erkenntnis des Glaubens offenbart sich in diesem Lamm die Weisheit Gottes, in der er die Welt liebt bis zum Sieg dieser Liebe vor allen Augen.

[1] vgl. E. Lohmeyer, Die Offenbarung des Johannes, HNT 16, Tübingen 1970, S. 55

[2] aus Douglas K. Huneke, In Deutschland unerwünscht, Hermann Gräbe, Biografie eines Judenretters, Giessen – Basel 2004, S. 300

[3] C. ten  Boom, Dennoch, Wuppertal, 1961, 6. Auflage, S. 92

[4] W.  Bachmann, Von Grund auf verwandelt, die Wende zum Glauben im Leben von Rudolf Alexander Schröder,

Bad Salzuflen 1965, 2. Auflage, S. 31

[5] Evangelisches  Gesangbuch, Nr. 36, Strophe 4

[6] H.-J. Iwand, Predigt-Meditationen, Göttingen 1963, 3.Auflage, S.437

[7] ebd.

[8] R. Schneider, Lyrik, Gesammelte Werke Band 5, hg. v. E.M. Landau, Frankfurt 1981, S. 26

[9] zitiert bei: K. Hartenstein, Der wiederkommende Herr, eine Auslegung der Offenbarung des Johannes für die Gemeinde, Stuttgart 1983, 4. Auflage, S. 125

[10] ebd., S. 438

[11] W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments, Grundrisse zum Neuen Testament, hg. v. G. Friedrich, Band 4, Göttingen 1982, S.320

[12] Johann Heinrich Jung-Stilling, Die Siegsgeschichte der christlichen Religion in einer gemeinnützigen Erklärung der Offenbarung des Johannis, Nürnberg 1799, S.392

[13] R. Schneider, Schwert und Friede, Gesammelte Werke Band 8, Essays, hg. v. R. Meile, Frankfurt 1977, S. 104

[14] Bekenntnisse der Kirche, Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten, hg. v. H. Steubing, in Zusammenarbeit mit

J.F. Goeters, H. Karpp u. E. Mülhaupt, Wuppertal 1970, S. 287

[15] Aushang im Gemeindehaus der Ev. Nikolai-Kirchengemeinde Siegen

[16] aaO., S. 288