„Denn die Erde jagt uns / auf den Abgrund zu.“
Es wird heute immer beliebter, in Gottesdiensten ganz moderne Lieder singen zu lassen. So sollen Menschen von heute für die Feiern gewonnen werden, die mit den althergebrachten Liedern nicht mehr vertraut sind. Wo Gott gefeiert wird, da soll die Sprache unserer Tage gesprochen werden. Man soll sich in den Rhythmen unserer Zeit wiegen. Es wird damit gerechnet, dass sich viele heute nicht mehr in traditionelle Texte und Melodien hineindenken und fühlen können.
Ich bin dagegen erstaunt, wie überraschend, wie radikal und wie aktuell Lieder sein können, die im „Evangelischen Gesangbuch“ ihren Platz gefunden haben.
1963 entstand in den Niederlanden das Lied „Met de boom des levens“. Jürgen Henkys, ein „DDR“-Pfarrer, übersetzte es 1977. Jetzt heißt es: „Holz auf Jesu Schultern, / von der Welt verflucht, / ward zum Baum des Lebens / und bringt gute Frucht“, ein Passionslied aus unserer Zeit.
In rücksichtsloser Offenheit werden hier von einem Menschen die Befürchtungen heute artikuliert, z. B. in der 5. Strophe: „Denn die Erde jagt uns / auf den Abgrund zu.“ Es wird nicht gesagt, ob hier die Folgen des Abwurfs einer Atombombe gemeint ist, oder das Ausbrechen eines Krieges zwischen Ost und West. Die beiden Verfasser dieses Liedes könnten eine viele Länder erfassende Epidemie meinen, so groß, wie es das noch nie gegeben hat, oder eine Erderwärmung, die den Pegelstand der Meeres cm um cm erhöhen und dann Inseln in den weit entfernten Weltmeeren versinken lassen und nah am Meer liegende Küstenstreifen überschwemmen. Holland wäre da ganz besonders gefährdet.
Gemeindegliedern, die sich zu Passionsandachten treffen, wird es zugemutet zu singen: „Denn die Erde jagt uns / auf den Abgrund zu.“ Jeder und jede, auch die Frommen, sollen sich klar machen, was auf uns zukommen kann, und das möglichst zu verhindern versuchen. Mit einem mehrfachen „Kyrie eleison“ bittet die Gemeinde Gott, sich ihrer und der ganzen Erde zu erbarmen.
Schon in der 1. Strophe beten alle, die dies Lied singen: „Sieh, wohin wir gehen. / Ruf uns aus den Toten, / lass uns auferstehn.“ Und zum Schluss wird gebetet: „Hart auf deiner Schulter / lag das Kreuz, o Herr, 7 ward zum Baum des Lebens, / ist von Früchten voll.“
In dieser kurzen Betrachtung aber kommt es mir nicht auf die Antworten an. Mir fiel der erschütternde Satz aus der 5. Strophe auf:
„Denn die Erde jagt uns / auf den Abgrund zu.“