Der evangelische Gottesdienst in der Spannung zwischen der Strenge des römischen Kaiserkultes und der Lockerheit der Fernsehshows in unserer Zeit

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  1. Einleitung

Gewöhnlich wird der Gottesdienst in einer evangelischen Kirche in einer bestimmten Form gefeiert. Andere Christen machen es anders: Katholiken, Baptisten, orthodoxe Christen, Mitglieder der neuapostolischen Gemeinde, um nur einige zu nennen – auch die Muslime, also Glieder einer anderen Religion, in ihrer Moschee feiern ihren Gottesdienst. – Warum feiern wir unseren Gottesdienst so, wie wir feiern?

  1. Unser Gottesdienst – noch immer von der Strenge des römischen Kaiserkultes geprägt.

In meiner ersten Gemeinde begann der Gottesdienst folgendermaßen: Die Gemeinde hatte sich versammelt. Während des Orgelvorspiels kamen die Presbyter in Zweierreihen durch den Mittelgang der Kirche gemessenen Schrittes nach vorne und setzten sich links und rechts hinter die Konfirmanden. Das erste Lied wurde angestimmt. Während der letzten Strophe trat der Pfarrer aus der Sakristei an den Altar. Nach dem Lied stand die Gemeinde auf, und der Pastor eröffnete mit „Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes …“ die Eingangsliturgie. Der Gottesdienst war streng ausgerichtet.

Vor einigen Jahren stand ich einmal in der Basilika, in der Königshalle, von Kaiser Konstantin in Trier, eine Riesenhalle mit dem Chorraum, in dem der Thron des Kaisers gestanden hatte. Solche Hallen waren die Vorbilder der romanischen Kirche in der ausgehenden Antike. In der Zeit nach Augustus entwickelte sich im römischen Weltreich ein religiöser Kult, in dem die vorhergehenden und der jeweilige Kaiser als Gottheit verehrt wurden. Wenn der Kaiser Bittsteller aus dem eigenen Reich oder Gesandte aus anderen Ländern empfing, nahm er auf seinem Thron in der Basilika Platz, der Hofstaat, also seine Minister umgaben ihn, und jeder, der mit dem Kaiser sprechen wollte, musste sich nun an das Hofzeremoniell halten. Dazu gehörte die Verbeugung oder gar das Niederknien vor dem Kaiser, dem Herrscher der Welt.

Von jedem Untertan wurde im römischen Kaiserkult das Weihrauchopfer für den Kaiser erwartet. Strenge, Würde und Demonstration der Macht prägten diese Zeremonie. Wo Christen in den ersten 3 Jahrhunderten dieses Opfer für den Kaiser verweigerten, mussten sie mit blutiger Verfolgung rechnen. Das änderte sich unter Kaiser Konstantin, der das Christentum im Jahre 325 n.Chr. zur Staatsreligion erhob. Nun ist der römische Kaiser nicht länger Gott, der divus (= der göttliche), der sebastos (= der verehrungswürdige), sondern Jesus Christus ist der Herr der Welt, der Kyrios. Er sitzt zur Rechten Gottes im himmlischen Thronsaal und regiert auf für die Welt verborgene Weise den Kosmos und ist als solcher der Herr der Kirche. In seinen Händen liegt alle Macht. Vor ihm allein sollen wir Menschen in Ehrfurcht auf die Knie gehen und ihm allein sollen wir gehorchen. Nun gibt es keine Mächte, vor denen wir in die Knie zu gehen brauchen, und keine Idole, für die wir uns fanatisch begeistern müssen.

Es gab damals noch eine andere Front: Jesus von Nazareth ist auch nicht nur wahrer Mensch, ein hervorragender Lehrer religiöser Wahrheiten und ein Freud aller Menschen in Not, wie es die Arianer und viele mit ihnen in der Alten Kirche sagten. Nein, Jesus von Nazareth ist zusammen mit Gott dem Vater und Gott dem Heiligen Geist eine Person der göttlichen Dreieinigkeit. Damals prägte man die Wendung: „im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ Wenn also unsere Eingangsliturgie eröffnet wird mit „Im Namen Gottes des Vater…“, die Gemeinde ihr Amen dazu sagt und dann alle miteinander das „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geiste“ anstimmen, dann wird von allen gemeinsam herausgestellt – und das ist gerade in unserer Zeit wieder hoch aktuell: Wir sind hier nicht zusammen im Namen eines Gottes der Antike oder der Germanen oder irgendeines Popstars im Sport oder in der Unterhaltungsindustrie oder im Namen eines Politikers, der Personenkult um sich herum duldet oder provoziert, und wir sind auch nicht zusammen im Namen von Allah, von Manitu oder irgendeiner aus dem Vergessen wieder ausgegrabenen Muttergottheit, nein, wir feiern Gottesdienst im Namen des Gottes, der Vater Jesu Christi ist, und rechnen damit, dass sein Geist jetzt unter uns besonders wirkt.

Formvollendete Strenge und Würde kennzeichnen seit der Zeit Konstantins den Gottesdienst der römischen Kirche. In dieser Zeit wurden die wesentlichen Elemente der römischen Messe: der Introitus (= der Eingangspsalm), das Kyrie, das große und das kleine Gloria, die beiden Lesungen, das Credo, und dann im Abendmahlsteil das Sanctus und das Agnus Dei gebildet und zusammengestellt. Martin Luther hat die Form dieser Messe übernommen, sie allerdings ins Deutsche übersetzt, und sie ist im Großen und Ganzen erhalten geblieben bis in unsere Zeit.

Wie mächtige Personen mit dafür gesorgt haben, dass sich unser Gottesdienst an eine vorgegebene Form hält, zeigt ein Ausspruch des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. (1797-1840): Sein auf straffe gottesdienstliche Ordnung gerichteter Sinn ertrug es nicht, dass „jeder unverständige Priester seine ungewaschenen Einfälle zu Markte bringt, modeln und verändern will, was die unsterblichen Reformatoren Luther und Melanchthon gemacht und angeordnet haben.“ In diesem Zitat offenbart sich die auf feste Ordnung bedachte, zwanghafte Persönlichkeitsstruktur des Königs, sein Selbstbewusstsein als Oberhaupt der evangelischen Kirche in seinem preußischen Reich zur damaligen Zeit und seine übersteigerte Verehrung der Reformatoren.

Man kann einen Gottesdienst auch einfacher, lebendiger und überraschender feiern. Inzwischen werden in vielen Gottesdiensten am Anfang alle, die gekommen sind, herzlich begrüßt. Wir freuen uns, dass wir jetzt am Sonntagmorgen mit vielen Gemeindegliedern zusammen sind, die wir seit langem gut kennen, haben vor und nach dem Gottesdienst Zeit, miteinander zu reden, und wir möchten offen sein für jeden, der neu dazu kommt und ihn in unsere Gemeinschaft aufnehmen.

Man kann eine Versammlung von Christen auch mit dem Satz beginnen: „Jetzt wollen wir Jesus einen ganz kräftigen Applaus geben!“, wie Walter Heidenreich (Freie Christliche Jugendgemeinschaft) das bei der Eröffnung von „Come to the light“ in der Schützenhalle tut. Hunderte von Jugendlichen antworten dann – natürlich – mit einem minutenlangen, ohrenbetäubenden Klatschen und Schreien. Man kann das tun, man muss es aber nicht.

Mir und vielen anderen Christen gemäßer ist es, schlicht zu sagen: „Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“, fest daran zu glauben, dass der liebende und heilige Gott gegenwärtig ist, und die ganze Gemeinde bekräftigt das aus ihrem Glauben heraus mit ihrem gemeinsam gesprochenen „Amen.“

  1. Unser Gottesdienst – in der Konkurrenz zu der Lockerheit der Fernsehshows in unserer Zeit.

Die Mehrzahl der Menschen in unserem Land und auch der größere Teil der Menschen, deren Namen in unserer Gemeindekartei stehen, haben sich für ein buntes, aufregendes Fernsehprogramm am Samstagabend bis in die Nacht hinein und gegen den Besuch der Gottesdienste ihrer Gemeinden am Sonntagmorgen entschieden. Sie haben sich seit langem ihre Favoriten unter den Showmastern ausgesucht, wählen, wen sie an diesem Abend möchten, hoppen vielleicht zwischen mehreren Sendungen hin und her, haben es sich in ihrem Wohnzimmersessel gemütlich gemacht und sind innerlich bereit, sich von diesen superbekannten Männern und Frauen unterhalten zu lassen. Sie opfern ihnen Stunden ihrer freien Zeit und sorgen mit dafür, dass ihre Shows eine hohe Einschaltquote behalten und ihre Gagen steigen. Das Arrangement der Bühne, die Ausleuchtung der Personen, die für die Akteure geforderten Kostüme, die musikalische Untermalung, der Auftritt der Überraschungsgäste, – all das wird von Dutzenden hochkarätiger Fachleute vorbereitet und geleitet. Oft schreitet der alles beherrschende Showmaster wie ein Fürst auf einer altarähnlich ausstaffierten Bühne die Treppe hinunter ins Fernsehbild. Das Publikum im Studio oder in der Festhalle muss auf Befehl klatschen, und dem millionenstarken Fernsehpublikum wird hofiert.

Quasireligiöse Hingabe und Verehrung wird von der großen Masse heute vor der Mattscheibe gelebt. Die Fernsehstars unserer Zeit sind darauf trainiert, die Massen zu überraschen, zu unterhalten und so zu tun, als würden sie den Menschen Wesentliches bieten. Alles läuft in Perfektion und Brillanz ab. Dabei wird durchaus menschliche Nähe gezeigt. Man tut so, als würde man auf die Fragen und Probleme der Menschen eingehen. Aber alles ist dem unerbittlichen Diktat der Unterhaltungsindustrie unterworfen. „Wir amüsieren uns zu Tode!“, heißt der Bestseller von Nils Postmann. „Nun amüsier mich mal!“, ist die Haltung, die das Fernsehen uns antrainiert und mit der wir oft fast schon unbewusst an andere Veranstaltungen herangehen. „Das wachsende Tempo der Medien bringe Kurzzeit-Konzentrations-Kinder als neue Medien-Generation hervor. Junge Fernsehzuschauer könnten sich nicht mehr lange auf eine Sache konzentrieren. Die Impressionen bleiben oberflächlich“, so hieß es in einer Tageszeitung. Jeder Mann und jede Frau, jeder Jugendliche und jedes Kind möge selbst prüfen, was er in seinen Gedanken, in seinen Gefühlen und für seine Lebensführung durch seinen Fernsehkonsum empfängt!

Die tausendfach erlebte Lockerheit und Abwechslungsvielfalt der Fernsehshows unserer Zeit hat die Erwartungshaltung und das Teilnehmerverhalten bei uns allen geeicht, ausgerichtet oder verdorben. Sollen wir sagen: Daran müssen wir uns orientieren? oder haben wir schlicht zu sagen: Damit können und wollen wir nicht konkurrieren? Müssen wir uns kräftig anstrengen, um mit den Profis im Showgeschäft unserer Zeit mitzuhalten? oder können wir auch da gelassen und aufmerksam nach dem biblischen Wort verfahren: „Prüfet alles, und das Gute behaltet!“ (1.Thess.5,21)?

Der Gottesdienst in der evangelischen Kirche steht in der reformatorischen Tradition unserer Kirche. Es wird meistens der vorgeschriebene Predigttext ausgelegt und aus dem „Evangelischen Gesangbuch“ unserer Kirche gesungen. Die Form des Gottesdienstes, die Art der Taufe und die Feier des Heiligen Abendmahls folgen den Bestimmungen der Kirchenordnung und den Vorlagen der Agende.

Aber oft ist der Gottesdienst an auch von Spontaneität und persönlicher Nähe bestimmt. Mitarbeiter bringen sich mit ihrer Phantasie und Kreativität, mit ihrer Gestaltungskraft und mit ihrem Glaubenszeugnis in das lebendige Geschehen von Gottesdiensten ein. Pfarrer und Laien, Erwachsene, Jugendliche und Kinder versuchen jedes Mal neu die Familiengottesdienste und besonders die Kindergottesdienstweihnachtsfeier an Heiligabend zu gestalten. So sind die Gottesdienste mehr und mehr lockerer geworden.

Sind wir auf dem richtigen Weg oder brauchen wir radikale Veränderungen bei der Feier unserer Gottesdienste? Können wir uns auf dem Erreichten ausruhen oder müssen wir alle miteinander noch einmal richtig wachgerüttelt werden?

  1. Unser Gottesdienst – in 3 Jahrtausenden gewachsen

Ich finde es imponierend, dass die Hauptversammlung der evangelischen Christen am Sonntagmorgen ein Gesamtkunstwerk ist, Die Liturgie unseres Gottesdienstes wurde aus Elementen zusammengesetzt, die in einem Zeitraum von 3 Jahrtausenden miteinander verwoben sind.

Dies wirkt sich natürlich auch auf die anderen Gottesdienste aus, zu denen die  Hauptgottesdienste in lebendiger Beziehung stehen, zu den Kindergottes­diensten, zu den Jugendgottesdiensten, zu den Gottesdiensten auf Gemeinde­freizeiten, zu den  Schulgottesdiensten, zu den Traugottesdiensten, zu den Beerdigungsfeiern und zu den kleinen gottesdienstlichen Feiern beim Haus­abendmahl in den Wohnungen. Und natürlich hat unser Gemeindegottesdienst, den wir zur Ehre Gottes feiern, seine Konsequenzen im Gottesdienst im Alltag der Welt.

Wir können dankbar dafür sein, dass wir unseren Gottesdienst nicht in den Katakomben feiern müssen und nicht in einer zerfallenden Kirche. Wir sind als versammelte Gemeinde auch nicht so klein, dass wir uns in einem Wohnzimmer treffen könnten, und wir haben auch kein Kino gemietet. Nein, jede Gemeinde hat ihre Kirche oder ihr Gemeindehaus, in dem Gottesdienst gefeiert wird.

Können wir uns unsere Gottesdienste vorstellen, ohne dass der aaronitische Segen aus 4.Mose 6,24-26 erteilt wird, ohne dass auf die Sprache der Psalmen zurückgegriffen wird und ohne dass die hebräischen Worte. „Amen“, „Halleluja“ und „Hosianna“ vorkommen? Die Psalmen lassen erkennen, dass eine Vielzahl von Instrumenten den Gesang der Gemeinde begleitet und das Lob Gottes unterstrichen hat. Zusammen mit den Lesungen und der Schrift­auslegung verbindet dies alles uns mit dem Gottesdienst der jüdischen Gemeinde.

Bei der Geburt Jesu sangen die Engel: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ (Luk.2,14), und wir singen es ihnen in unseren Gottesdiensten nach, wenn wir das Gloria singen. Das Neue Testament überliefert uns das „Vaterunser“, das Gebet, das Jesus seinen Jüngern beigebracht hat und das inzwischen die Welt umspannt. Aus den Geschichten, die von der Begegnung Jesu mit in Not geratenen Menschen erzählen, stammt das griechische „Kyrieeleison“. Mit ihm bekennen sich Menschen zu der göttlichen Größe Jesu und packen ihm miteinander die Not und die Schuld der Menschen vor die Füße. Alle Ohnmacht und Armut, alle Hilfsbedürftigkeit und Lebenslast drückt sich hier aus. Die Einsetzungsworte zur Taufe und zum Abendmahl stammen von Jesus selbst. Natürlich liegen vielen Predigten Texte aus dem Neuen Testament zugrunde. Und es ist uns zu unserer eigenen Orientierung geboten, zurückzufragen: Wie hat die Urgemeinde ihre Gottesdienste gefeiert? Was lässt hier das Neue Testament erkennen.

Das wichtigste Bekenntnis der Christen, das sicher ab und zu durch andere Bekenntnisse ersetzt werden kann, aber seine Gültigkeit behält, ist das um 200 n.Chr. in der Gemeinde in Rom entstandene sogenannte apostolische Glaubens­bekenntnis, das in knappsten Sätzen die Geschichte Gottes mit uns Menschen nacherzählt.

Das „Ehr sei dem Vater…“, das „Kyrieleison“, das „Ehre sei Gott in der Höhe…“, das „Allein Gott in der Höh sei Ehr…“ und das „Christi, du Lamm Gottes…“ aus der Abendmahlsliturgie gehören seit dem 4.,6.,8. Jahrhundert, also seit weit über 1000 Jahren zur gottesdienstlichen Feier der Christen. Dies alles verbindet uns mit vielen anderen christlichen Kirchen weltweit, die jede für sich eine andere Geschichte haben. Wir singen diese Stücke der Liturgie meistens in Fassungen, die in der Reformationszeit entstanden sind.

In unserem Gottesdienst werden viele Lieder gesungen, die aus den ganz unterschiedlichen Zeiten der Kirche in den vergangenen 500 Jahren stammen. Wir können uns Gottesdienste zu den Christusfesten, also an Weihnachten, an Karfreitag, an Ostern, an Himmelfahrt und an Pfingsten nicht vorstellen, ohne dass die tief in das Bewusstsein der Menschen in unserem Volk eingegangenen Lieder gesungen werden. Allerdings müssen auch Lieder und Rhythmen unserer Zeit und aus anderen Kulturkreisen dabei sein, die den ganzen Körper und die Seele mitschwingen lassen und die Freude der Christen ausdrücken.

Ich habe ein ganzes Ja zu neuen Liedern, zu neuen liturgischen Stücken, zu Anspielen, zu Pantomimen, zu Theaterstücken und zu Überraschungen. Zugleich aber wird unser Gottesdienst nur Anker für uns und für andere Menschen bleiben, wenn er tief in der Geschichte unserer Kirche wurzelnde Elemente, die für viele Menschen in unserer immer schneller, immer faszinierender und immer rabiater werdenden Welt zu Fremdkörpern geworden sind, enthält. Diese Elemente, die uns mit der Urgemeinde, mit der Kirche in ihrer Geschichte, mit der weltweiten Christenheit und vor allem mit Jesus selbst verbinden, bleiben. Ob sie reduziert oder variiert werden können, ist eine andere Frage.

  1. Unser Gottesdienst – ein Geschehen, in dem wir die Gegenwart Jesu erwarten, erleben und feiern.

Wir setzen unseren Gottesdienst am Sonntagmorgen nicht an, um eine versunkene Kultur zu pflegen. Wir kommen auch nicht zum Gottesdienst zusammen, um unser Können zu zeigen. Und wir wollen in dieser Stunde am Sonntagmorgen nicht unsere Frömmigkeit und damit uns selbst zur Schau stellen und feiern lassen. Nein, wir wollen ganz da sein, wo Gott, der Vater, durch seinen Sohn Jesus Christus uns Menschen seine Gegenwart schenkt, uns berührt, zu uns spricht und uns verwandelt, und wir wollen, weil Gott uns liebt, miteinander Gemeinschaft haben. Wichtiger als sich unter die über Jahrtausende gewachsene Tradition des christlichen Gottesdienstes zu stellen, ist es für uns, dass wir uns an Jesus Christus, dem Heiland der Welt und dem Herrn der Kirche, orientieren und auf sein Wort hin in seiner Nachfolge Schritte tun. Zusammen mit seinen Jüngern und zusammen mit der Volksmenge stand er in der Gegenwart Gottes, wenn er predigte, heilte, betete und mit den Menschen sprach.

Ganz bewusst nahm Jesus regelmäßig an dem Synagogengottesdienst seines jüdischen Volkes teil, aber er war auch in der Gegenwart Gottes, wenn er auf dem Markt oder in den Häusern, am Ufer des Sees oder auf einem Berg mit Menschen zusammen war. Sie strömten zusammen, hörten zu, bis dass sie hungrig und müde wurden und bis die Sonne unterging, und viele erwarteten mit allen Fasern ihrer Existenz etwas von Gott. Jesus redete und heilte in großer Konzentration, aber er ließ sich auch unterbrechen, herausfordern und stören. So öffneten sich Menschen für Gott.

Sie wurden in ihrer Frömmigkeit gestärkt. Sie lernten es, ganz neu über Gott zu staunen. Sie wurden in ihrer Selbstsicherheit erschüttert. Sie wurden, wo es nötig war, in ihrem Leben ohne Gott überführt. Sie ließen sich heilen. Sie setzten sich mit dem Anspruch, in dem Jesus auftrat, auseinander. Und sie wurden in die Nachfolge gerufen.

Mehrere Gestaltungselemente haben unseren Gottesdienst so geformt, wie er ist.

a) In der Mitte unseres Gottesdienstes steht die Predigt, in der die Heilige Schrift so ausgelegt wird, dass jeder es an seiner Bibel nachvollziehen kann, in der jeder einzelne dem lebendigen Wort Gottes in seiner gebietenden und tröstenden, richtenden und begnadigenden Kraft immer neu und immer tiefer begegnet. Es ist unser Wunsch, dass durch die Predigt Menschen vom Rande der Gemeinde neugierig auf Gott gemacht werden, wiederkommen, nachfragen und dann in ihrem Leben ohne Gott erschüttert werden und zum Glauben kommen. Martin Luther schreibt: „Denn es ist alles zu tun um Gottes Wort, dass dasselbe im Schwange gehe… Es ist alles besser nachgelassen denn das Wort.“ (s. Clemen, II,426)

b) Zu dem gepredigten Wort in unserem Gottesdienst gehört die Antwort der Gemeinde. Menschen kommen von ihren Zuschauerbänken herunter. Sie verlassen ihre skeptische Distanz. Sie stellen ihre Fragen solange, bis sie die ihnen gemäße Antwort gefunden haben. Dann reihen sie sich in unter die Menschen ein, die zum Glauben gekommen sind, die Antworten auf ihre Fragen bekommen haben und die bereit geworden sind, ihren Glauben zu bekennen. Das Verhältnis von Wort und Antwort prägt auch die Wechselgesänge der Liturgie.

c) Wo die traditionelle Kirche sagt: Zur Messe gehören der Introitus, das kleine und große Gloria, das Kyrie, die Lesungen und das Credo, da sage ich einfacher und schlichter: Schauen wir uns doch die Geschichte von der Heilung der 10 Aussätzigen in Luk.17, 11-17 an:

Die Geschichte beginnt damit, dass die 10 Aussätzigen rufen: „Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser!“ Da haben wir das Kyrie, in dem Menschen Jesus als Herrn anbeten, zu ihm mit ihrer ganzen Not kommen und zugleich alle Nöte der Menschen in der Welt ausbreiten.

Dann prüft Jesus den Glauben dieser kranken Männer, indem er sie weit weg zu den Priestern schickt. Jedes von der Gemeinde gesprochene „Amen“ im Gottesdienst und jedes im Gottesdienst miteinander gesprochene Glaubens­bekenntnis können erst richtig mitgesprochen werden, wenn man diese Frage: „Glaubst du das?“ (vgl. Joh. 11,26) durchgestanden und sich das gehörte Wort zu eigen gemacht hat.

Und zum Schluss der Geschichte aus Luk.17 kehrt der eine Samariter zurück, wirft sich vor Jesus auf die Füße, betet ihn an und gibt Gott die Ehre.

Jedes im Gottesdienst gesungene Halleluja, jedes von der Gemeinde ange­stimmte Loblied, jedes in der Liturgie wiederholte Gloria und jeder Abschluss des Vaterunsers „Denn dein ist das Reich und die Kraft und Herrlichkeit in Ewigkeit“ sind Ausdruck des Dankes für das, was Gott unter uns getan hat und Verherrlichung seines Namens. Ihm kommt unser Lob zu. Wir sind gewürdigt, zum Lob Gottes auf dieser Erde beizutragen. In der Anbetung des dreieinigen Gottes werden wir frei von uns selbst und bekennen wir uns zu dem, der unser Schöpfer, Erlöser und Vollender ist. In solcher Anbetung kommt alles Bitten und Danken zur Ruhe.

d) Es ist gut, wenn unser Gottesdienst Raum zur Stille hat, in der jeder Einzelne zu sich selbst kommen und mit Gott Zwiesprache halten kann. Viele Menschen suchen heute die Stille in der Natur, während des Urlaubs oder in Meditationszentren. Manch einer verspricht sich Lebenshilfe bei aus dem fernen Osten stammenden Methoden. Unser Gottesdienst lässt Raum für die Stille und kann nur recht gefeiert werden, wenn die Menschen, die diesen Gottesdienst zu ihrer Sache gemacht haben, von ihm für sich und für die anderen das Wichtigste in ihrem Leben erwarten.

e) Zu unserem Gottesdienst gehört neben der Bitte und der Klage, dem Dank und dem Lob die Fürbitte am Schluss des Gottesdienstes, in der die Nöte der Gemeinde, der Menschen in der Nähe und der Menschen in der Ferne, über die uns die Medien ausführlich unterrichten, vor Gott gebracht werden. Natürlich können Christen und Christinnen nicht beten, ohne zuversichtlich und zupackend zu handeln. Das Gebet ist die Kehrseite unseres Tuns.

f) Eine Möglichkeit zu handeln ist das Sammeln von Geld für Menschen, die es brauchen. Wir wollen sehr dankbar sein für die großen Kollekten unserer Gottesdienste, aber es uns zugleich zu Herzen nehmen, dass Gott unser ganzes Geld gehört und wir ihm unser zukünftiges Leben anvertrauen dürfen. Wir werden in den nächsten Jahren erleben, dass unser Gemeindeleben noch in ganz anderer Weise von unserer Opferbereitschaft abhängt. Es ist angemessen, dass das Opfer selbstverständlich und in Würde eingesammelt und zum Altar gebracht wird.

g) Der Gottesdienst ist die wichtigste Zusammenkunft einer hörenden, betenden, handelnden Gemeinde. Ich glaube, dass Gott will, dass diejenigen, die an ihn glauben, miteinander Gottesdienst feiern, zusammen Gemeinde bilden und dem Werk, das Gott unter uns Menschen angefangen hat und vollenden wird, zur Verfügung stehen. Und ich glaube weiter, dass Menschen ganz unterschiedlicher Art in einer christlichen Gemeinde ganz anders und viel intensiver zusammen leben können, als das in einer pluralistischen Gesellschaft möglich ist. Während in unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft Menschen miteinander auf dem Boden des Grundgesetzes auszukommen versuchen, die nicht gemeinsam um ihren Ursprung und ihr Ziel in dieser Welt wissen, haben Christen und Christinnen in einer evangelischen Kirchen­gemeinde in dem dreieinigen Gott ihre Mitte. In der Orientierung an ihm können sie die Vielfalt der Charaktere und der Lebensalter, der Prägungen und Fähigkeiten gegenseitig annehmen und wirken lassen.

h) Jesus von Nazareth selbst feierte die Gottesdienste seines Volkes mit. Zugleich aber wurde er zum Grund dafür, dass in dem Namen seines Vaters im Himmel Gottesdienste ganz neu gefeiert wurden. Viele unter den Christen leben in der Erwartung einer Erweckung. Menschen sollen erkennen, wie sie ohne Gott gelebt und wie sie an den von Gott selbst in sie hineingelegten Möglichkeiten vorbei gelebt haben. Immer aber wo Gott Menschen wachrüttelt, mit seinen heilsamen Kräften in ihr Leben hineinkommt und sie sich gegenseitig anspornen, ein Leben in der Freiheit eines Christenmenschen und in der Dynamik des Glaubens zu leben, zerreißt der junge Wein die alten Schläuche (Mk.2,22) und schafft neue Formen des Zusammenlebens und des Dienstes. Gerade in einer Gesellschaft, die sich ständig wandelt und Inno­vationen in ihrer Wirtschaft braucht, hat eine evangelische Kirchengemeinde nur Bestand, wenn sie ihre Wurzeln in der biblischen und reformatorischen Theologie ernst nimmt, wenn sie es wagt, heute Protestanten zu sein, heute auf die erneuernde Kraft des Geistes zu setzen, heute als wanderndes Gottesvolk aus der Heiligen Schrift Wegweisung zu schöpfen, heute neue Gedanken zu denken und heute neue Formen des Gottesdienstes und des Zusammenlebens zu entwickeln. Die hier begründete Freiheit muss in dem Gottesdienst der Gemeinde erkennbar und erlebbar sein.

  1. Unser Gottesdienst – ein Abbild des himmlischen Gottesdienstes.

Wir wollen es nicht zulassen, dass unser Gottesdienst Gegenstand zum Nörgeln und Mosern wird. Stattdessen wollen wir daran arbeiten, dass er noch gesammelter und noch fröhlicher, noch einladender und noch aktueller wird. Es ist uns dabei ein kräftiger Trost, dass im Himmel gesungen und gelobt, gebetet und Fürbitte getan wird für uns, für die weltweite Gemeinde Jesu und für die Menschen überall auf der Welt, die Gott liebt. Ohne Hektik, ohne Selbstzweifel, ohne Hin- und Hergerissen-Sein sind dort die Engel, die 24 Ältesten und die schon Heimgerufenen versammelt und loben den, der dort auf dem Thron sitzt und neben ihm das Lamm, das zugleich der Löwe Israels ist. Dieser himmlische Thronsaal ist erfüllt von einer Atmosphäre der Anbetung und der Heiligkeit.

Die orthodoxen Christen verstehen in besonderer Weise ihren Gottesdienst auf der Erde mit seiner feierlichen Liturgie als Abbild des Gottesdienstes in der Ewigkeit, in dem schon jetzt der himmlische Hofstaat mit den Märtyrern und Heiligen vereinigt ist. Ich kenne einen Pastor, der oft im Gottesdienst sagte: „Wir grüßen die Schar der Vollendeten.“ Damit ist uns hier auf der Erde das Ziel aller Anbetung vor Augen gemalt. Mitten in dieser dem Tode verfallenen Welt ist Menschen, wo sie zu Gott finden, der in der Auferstehung Jesu begründete neue Äon, die neue Zeit, auf den Leib gerückt, so dass sie sich einüben können, miteinander aus den Quellen der Ewigkeit zu leben.

Hartmut Frische
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