Demokratie

Die Haltung der westlichen und der islamischen Welte zur Demokratie

Es geschah 2011 und 2012 in den wichtigsten Städten Tunesiens und Ägyptens, Libyens, des Jemen und Syriens. Hunderttausende junger Menschen gingen  zum Beginn des sogenannten „arabischen Frühlings“ auf die Straße. Sie  haben für ihre Rechte demonstriert und ihr Leben riskiert. Sie wünschten sich nichts sehnlicher als die Freiheit, die Zukunftschancen und den Wohlstand der Länder der westlichen Welt. In islamisch geprägten Ländern und auch in unserem Land gab und gibt es Muslime, die voller Hoffnung sind. Sie rechnen fest damit, dass sich in den nächsten Jahren die Menschen in islamisch geprägten Ländern zu funktionierenden Demokratien durchringen.

Zu diesen Muslimen gehört Navid Kermani. In seiner Rede am 23. Mai 2014, am Tag des Grundgesetzes, im deutschen Bundestag kündigte er an: „Es wird keine 65 Jahre und nicht einmal 15 Jahre dauern, bis auch im Iran ein Christ, ein Jude, ein Zoroastrier oder ein Bahai wie selbstverständlich die Festrede in einem frei gewählten Parlament hält.“ Da hat er eine große Hoffnung für das Land seiner Väter. Wird sie sich erfüllen? Seit 1979 wird es von dem Ayatollah Khomeini und den ihm nachfolgenden Mullahs regiert. Noch wollen diese religiösen Führer den Iran mit aller Kraft dauerhaft zu einem islamischen Staat machen. „Die Verfassung der Islamischen Republik Iran, die nach der Volksabstimmung vom 02.12.1979 verabschiedet wurde, hat das Prinzip der ‚stellvertretenden Regierungsausübung durch den Rechtsgelehrten‘ staatsrechtlich verankert“, schreibt Andreas Meier[1]. Aber für einen hier in Deutschland aufgewachsenen, politisch wachen Menschen wie Kermani sind die Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auch in den Lehren des Islam verwurzelt[2]. So hofft er für das Land, aus dem seine Eltern kommen, auf einen grundlegenden politischen Wandel in wenigen Jahren.

Aus dieser Haltung heraus ist Kermani bereit, riskante Reisen zu machen. Er hat  mehrmals in den Jahren 2012-2015 das Kloster Mar Musa in Syrien besucht und immer neu mit dem italienischen Pater Paolo Dall’Oglio dort gesprochen. Dabei hat er von ihm gelernt, wie man den friedlichen Aufstand für Demokratie in Syrien gegen die brutale Machtausübung des Diktators Bashar el-Assad im Lande unterstützen muss[3].

In seinem Buch „Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime“  kann Navid Kermani schreiben: „Demokratie, Gewaltenteilung, die weltanschauliche Neutralität des Staates, Toleranz, Menschenrechte und die Gleichberechtigung der Geschlechter sind Prinzipien, die sich in den letzten Jahrhunderten im Westen herausgebildet haben, aber universelle Geltung haben.“ Und dann fordert er dazu auf: „Der Westen muss diese Werte in keinem Dialog der Kulturen aufgeben oder sie relativieren. Im Gegenteil: Er sollte für sie einstehen und sie missionarisch vertreten.“[4]

An einer Stelle in diesem Buch aus seiner Feder horche ich besonders auf. Am Schluss einer Rede vom Januar 2004 betont er: „Europa und der Westen insgesamt haben als vielleicht wichtigste Errungenschaft ein Staatsmodell entwickelt, das die unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen nicht nur duldet, sondern radikal gleich behandelt, in ihrer Akzeptanz wie in ihrer Beschränkung – gleich behandeln sollte, jedenfalls.“[5]

Das Wörtchen „radikal“ leitet sich von dem lateinischen Wort „radix = die Wurzel“ ab. Kermani befürwortet leidenschaftlich das Staatsmodell des Westens mit seinen Idealen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aber was ist die Wurzel seines Denkens: der Koran und seine Geisteshaltung oder das aufgeklärte Denken des 18. Jahrhunderts, das sich 1789 in der Französischen Revolution seinen Durchbruch verschaffte und fortan eine der Kräfte ist, die ganze Gesellschaften prägt? Wie denkt sich Navid Kermani den Staat, der die unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen radikal gleich behandelt?

Mouhanad Khorchide, Professor für Islamische Religionswissenschaft an der Universität in Münster, ist ein anderer Muslim, für den Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit tief im Islam verwurzelt sind. Jedenfalls schreibt er viele Male in seinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Theologie“, dass Muhammad bereits in seiner Zeit als Prophet in Mekka Prinzipien aufgestellt hat, die zugleich „als universale und ahistorische Richtlinien gelten“. Und dann zählt er auf:

  1. Monotheismus
  2. Unantastbarkeit der menschlichen Würde
  3. Gerechtigkeit
  4. Freiheit des Menschen
  5. Gleichheit aller Menschen
  6. Soziale Verantwortlichkeit[6].

Ich kann und will jetzt nicht nachzeichnen und zu verstehen versuchen, in welcher Weise es Khorchide gelingt, diese Prinzipien aus den von Muhammad in Mekka verfassten Suren abzuleiten. Für mich klingen diese sechs Prinzipien weithin nach Begriffen, die in der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts so formuliert wurden, dass sie seitdem aus dem Staatsdenken europäischer Länder nicht mehr wegzudenken sind, aus dem politischen Denken der USA, Kanadas und Australiens ebenfalls nicht. Es klingt danach, als  formuliere Khorchide diese Prinzipien so, dass sich Muslime und Muslimas in diesen Ländern zu Hause fühlen können. Ohne ihre religiösen Wurzeln im von Muhammad in Mekka verkündigten Islam aufgeben zu müssen! Auch hier stellt sich die Frage: Wie stehen die islamischen Welten, in ihnen die Gelehrten, die Theologen, die politisch Verantwortlichen und die aufgeschlossenen Bürger zur Demokratie?

Verbindendes zwischen Juden, Christen und Muslimen

Wenn es um die Stellung Europas auf der einen und der islamischen Welten auf der anderen Seite zur Demokratie geht, dann gibt es – zumindest zwischen Juden, Christen und Muslimen – Verbindendes. Die Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beginnt mit der Wendung: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…“. Als der „Parlamentarische Rat“ am 23.05.1949 für die drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands dieses Grundgesetz verabschiedete und so die Bundesrepublik Deutschland gründete, wird der größere Teil der Mütter und Väter des Grundgesetzes bei dem Wort „Gott“ an den dreifaltigen Gott der Christen gedacht haben. Ein Teil dieser Frauen und Männer aber hatte sicher den Gott vor Augen, den Gotthold Ephraim Lessing in dem Theaterstück „Nathan der Weise“ beschreibt und der nach der Ansicht Lessings für Juden, Christen und Muslime derselbe ist.

Wo in Europa von der „Verantwortung vor Gott“ die Rede ist, da gibt es in  gewisser Weise Ähnliches zwischen den Menschen, die an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Menschen, die an Gott, den Vater Jesu Christi, und den Menschen, die an Allah, von dem Muhammad redet, glauben. Die Menschen in diesen drei Religionen sind sich auch einig darüber, dass Gott dem Menschen Gebote gegeben hat. Der Mensch tut gut daran, nach diesen Geboten, nach dem Willen seines Schöpfers, zu fragen. Nach den Glaubensüberzeugungen dieser drei Religionen wartet auf den Menschen das Jüngste Gericht. Menschen haben sich vor dem Richterstuhl Gottes zu verantworten.

Für immer mehr Menschen heute aber wird der Glaube an Gott völlig zu einer Privatsache. Oder sie leugnen überhaupt, dass es Gott gibt. Juden, Christen und Muslime aber sagen „Ja“ zu der Art und Weise, wie Gott ihr Leben führt. Zu ihrem Glauben gehört es dann, dass sie sich eingliedern in die Gemeinschaft, die Gott gestiftet hat, in die jüdische Religionsgemeinschaft, in die Gemeinde Jesu Christi oder in die „umma“ der Muslime.

Zu beachten ist: Die Anfänge der Demokratie, so wie wir sie heute verstehen, liegen weder im Judentum, noch im Christentum, noch im Islam. Aber schon für das Judentum des Alten Testamentes – man lese nur 5. Mose 16,8; 17,8; 21,19; Rut 4,1.11; Psalm 127,5 –, auch in der Urgemeinde der Christen – man lese Apg 6,1-7; 15,7-29 – gibt es das Beratschlagen, das Verhandeln und die Rechtsprechung der Verantwortlichen im Tor der Stadt oder in der Versammlung der Gemeinde. Auch der Koran weiß um diejenigen, die „ihre Angelegenheiten in Beratung untereinander (erledigen)“ (Sure 42,38; siehe auch Sure 3,159). Manch einer von denjenigen, die den Islam in der gegenwärtigen Welt als die rettende Weltanschauung überhaupt verteidigen, betonen, dass von diesen beiden Suren her „eine Art ‚islamische Demokratie‘ im Laufe der islamischen Geschichte etabliert worden sei“[7].

Ganz tief liegende Wurzeln demokratischen Denkens

Dennoch: Man kann ganz und gar nicht sagen, dass die Demokratie, die Herrschaft des Volkes über das Volk, in der Geschichte des Judentums oder in der Christenheit ihre Ursprünge hat. Und doch gibt es Elemente demokratischen Denkens, die im biblischen Denken tief verwurzelt sind. Dies kann hier nur stichwortartig aufgelistet werden:

Es ist nur schwer möglich, von der „Würde des Menschen“ (Grundgesetz Art.1) zu sprechen, ohne daran zu denken, dass nach dem ersten Schöpfungsbericht der Bibel „Gott … den Menschen zu seinem Bilde“ schuf (1. Mose 1,27). Der Mensch ist Gottes Stellvertreter auf dieser Erde, Gottes Ebenbild. Er soll und darf von Gott her und auf ihn hin leben. Er soll sich die Erde untertan machen; er soll sie bebauen und bewahren (1. Mose 1,28 und 2,15).

Menschen können leicht verführt werden, sie können sich schuldig machen und sie missbrauchen ihre Macht leicht auf brutale Art und Weise. Dies wird in 1. Mose 3 und 4 sensibel und drastisch zugleich geschildert.

Deshalb bedarf menschliche Macht einer Kontrolle. In der Geschichte des Volkes Israel werden deshalb von Gott nicht nur Könige eingesetzt, sondern auch Propheten berufen, die es wagen, dem König kritisch gegenüberzutreten. Ein Nathan dem König David (2. Sam 7), ein Elia dem König Ahab (1. Kön 17 + 18), ein Jeremia dem König Josia (Jer 1,2; 3,6; 25,3). Schon hier gibt es eine Gewaltenteilung. Auch Johannes der Täufer tritt mutig dem Provinz-Fürsten Herodes gegenüber (Mt 14,1-5).

Der Gott der Bibel ist ein Gott, der befreit. Das erste der Zehn Gebote sagt es ganz lapidar: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ (2. Mose 20,2f). Zahlreiche Stellen der Bibel lassen sich hier anführen.

Wem die Gleichheit aller Menschen wichtig ist, der weiß um den Grundsatz des Apostels Paulus: „Hier gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Juden und Griechen, zwischen Sklaven und freien Menschen, zwischen Mann und Frau.“ (Gal 3,28)

Auch die Brüderlichkeit hat ihre Wurzeln im Alten und Neuen Testament. Nur eine Szene sei hier herausgestellt: Jesus redet vor Menschen; sie hören ihm intensiv zu; da tauchen seine Mutter und seine Brüder auf; man weist ihn auf seine Familie hin; aber Jesus lässt sich nicht davon abhalten, in seiner Predigt fortzufahren. Er zeigt auf seine Jünger und sagt: „Das sind meine Mutter und meine Brüder! Denn wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ (Mt 12,49f) Für das Leben und Wirken Jesu ist die Familie Gottes wichtiger als die Macht der Clans, in die die Menschen der Antike vielmehr eingebunden waren als wir heute.

Ur-Anfänge der Demokratie in Athen und Rom

Nun aber gilt: „Demokratie ist ein dem Griechischen entlehnter Begriff der politischen und wissenschaftlichen Sprache, dessen Bedeutungskern Herrschaft oder Machtausübung des Volkes oder der Volksversammlung ist“, schreibt Manfred G. Schmidt[8]. Und dann fügt er die Kurzformel von Abraham Lincoln hinzu: „Demokratie sei ‚government of the people, by the people and for the people‘ = ‚Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk‘“.

Schmidt konstatiert weiter: „Ihren Ursprung hat die Demokratie in der Polis – der politischen Herrschaftsform der griechischen Stadt- oder Gemeindestaaten insbesondere im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. Dort bedeutete Demokratie die unmittelbare Herrschaft oder Machtausübung der Vollbürger oder der Versammlung der Vollbürger.“[9] Vollbürger sind die Männer der Stadt; Frauen, Kinder und Sklaven haben zu jener Zeit an der Herrschaft nicht teil. Nicht mehr einer alleine wie in der Monarchie und in der Tyrannei und nicht mehr einige wenige wie in der Aristokratie und der Oligarchie, sondern alle haben an dem Ausüben von Herrschaft teil.

Im Zentrum dieser Zeit steht Perikles (geb. um 490 v. Chr., gest. 429 v. Chr.). Alfred Heuss urteilt: „Unter Perikles … stellte sich auch das Bewusstsein heraus, dass Athen mit der Demokratie die ihm eigentümliche politische Form gefunden hat“[10]. Hier galt die Richtlinie: „Keine Herrschaft, und wenn ‚geherrscht‘ werden musste, dann nur durch die Beherrschten selbst. Beides, herrschen und beherrscht werden, müsse in der gleichen Hand liegen; anders wäre letzteres nicht erträglich.“[11]

Auch die römische Geschichte ist für die Entwicklung der Herrschaftsformen in Westeuropa von nicht zu unterschätzender Bedeutung, besonders das in Rom entwickelte Rechtsbewusstsein. Jan Sieckmann weiß um schriftliche Rechtstraditionen vor und neben dem in Rom niedergelegten Recht und nennt den Codex Hammurabi (ca. 1700 v. Chr.), das hebräische Recht, das griechische Recht und das islamische Recht. Er schreibt aber dann: „Einen besonders hohen Entwicklungsstand wies das römische Recht auf, mit der Bildung abstrakter Rechtsbegriffe sowie der Ausbildung eines Juristenstandes. Es ist in Justinians Corpus Juris Civilis (= in der Sammlung bürgerlicher Rechte) (529-534 n. Chr.) zusammengefasst.“ Und dann fügt er hinzu: „Das römische Recht war von größtem Einfluss für die weitere europäische Rechtsentwicklung.“[12]

Es ist schon gut getroffen, wenn Theodor Heuß in einem Vortrag vor Schülern heraus stellt: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“[13] So pointiert hat der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland die jüdisch-christlichen und griechisch-römischen Wurzeln unseres Gemeinwesens bezeichnet. Vor 68 Jahren, damals in den ersten Jahren der BRD, hat er ausgedrückt, was in der Breite der Bürgerschaft viele dachten und fühlten. Wo man in einem Land die Staatsform der Demokratie einführen und auf Dauer stärken möchte, da braucht es in diesem Land einen geistesgeschichtlichen Hintergrund. Die Bürger und Bürgerinnen dieses Landes müssen genau diese Staatsform wollen und miteinander tragen.

Jahrhunderte der Kaiser und Könige

Die Blütezeit der griechischen „polis“ war bald zu Ende. Die klassische Zeit des römischen Staates wurde von Revolutionen erschüttert und mündete in die Zeit der römischen Kaiser, der Imperatoren. Sie fingen bald an, sich mit  göttlichem Glanz zu umgeben, sich selbst in einem Herrscherkult verehren zu lassen und diktatorisch zu regieren. Die Staatsform der Demokratie wurde zu einer versunkenen Episode der antiken Welt. Schließlich zerbrach das weströmische Reich unter dem Ansturm der Westgoten und anderer germanischen Völker, die vom Norden her die Völker des Mittelmeerraumes  bedrängten. Romulus Augustus, mit dem Spottnamen Augustulus, 475 zum Kaiser ausgerufen, dankte 476 n. Chr. ab.

Neue Reiche traten auf dem europäischen Kontinent in den Vordergrund, vor allem das Frankenreich, das unter dem König Chlodwig – Er regierte von 488-511. –  neue Bedeutung errang. 300 Jahre später verbanden sich unter dem Frankenkönig Karl die Herrschaftstraditionen der Franken mit der Machtfülle der römischen Imperatoren. Im Jahre 800 n. Chr. wurde Karl in Rom von Papst Leo III. zum römischen Kaiser gekrönt. Bereits Chlodwig war zum Christentum übergetreten; auch König Karl – Er regierte von 768-814. –  wusste sich als Christ[14]. Von nun an nahmen sich über Jahrhunderte hinweg christliche Könige und Kaiser in Europa David und Salomo, von Gott berufene Könige in der Frühzeit des Volkes Israel, zum Vorbild für ihr Herrschen. Man betrachte nur einmal die Reichskrone des „Römischen Reiches Deutscher Nation“, die heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg ausgestellt ist. Neben dem Kreuz gehört zu dieser Krone ein Kranz von acht Bildern. Drei von ihnen zeigen die  alttestamentlichen Könige David, Salomo und Hiskia, eins von ihnen Jesus, den König aller Könige. Die Träger dieser Krone haben einen weltlichen und einen religiösen Führungsanspruch. Es ist nicht ganz sicher, wann diese bedeutende Reichskrone entstand. Künstlerisch gestaltet wurde sie frühestens für die Kaiserkrönung Ottos I. im Jahre 962 n. Chr., spätestens zur Krönung von Konrad II., der von 1024-1039 regierte. Der Habsburger Kaiser Franz II. legte diese Krone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 nieder, als sich Napoleon ein Land nach dem anderen in Europa unterwarf.

Bis ins 21. Jahrhunderte hinein hatte und hat Europa Könige und Königinnen, die als hoch geachtete Repräsentanten ihrer Völker Gott und ihrem Land dienen[15]. Aber in welcher Weise haben in den vergangenen Jahren Könige und Königinnen, dazu Herzöge und Grafen, auch eigenmächtig und selbstherrlich geherrscht? Sie übertraten drastisch Gottes Gebote und menschliches Recht. Sie führten völlig unnötige Kriege. Sie ließen bei  religiösen Streitereien ihre Heere aufmarschieren, haben Ströme von Blut vergossen und Menschen massiv unterdrückt, besonders im Zeitalter des Absolutismus.

Zarte und entschlossene Anfänge demokratischen Handelns

Aber nun gibt es zarte und zugleich entschlossene Anfänge demokratischen Handelns in Europa. Zu nennen ist hier zunächst einmal die tapfere Gründung der Schweiz. Es geschah zurzeit von Rudolf  I., Graf von Habsburg, der erste König des Heiligen Römischen Reiches aus dem Geschlecht der Habsburger, –  Er regierte 1273-1291. – und seines Sohnes Albrecht – Er regierte von 1298-1308. – Sie versuchten, die Hausmacht der Habsburger zu vergrößern und dabei die Berglande Uri, Schwyz und Unterwalden einzubeziehen, die nach der Eröffnung des St. Gotthardpasses besonders wichtig waren[16]. Dabei stießen sie auf den Widerstand der „kraftvollen Gemeinden freier Bauern in den Bergen der Schweiz“[17]. Hier waren sich Menschen, die zur Katholischen Kirche gehörten, ihrer Würde vor Gott und den Menschen bewusst. Sie bezeichneten das Machtgebaren des fernen Königs in Wien als Unrecht und lehnten sich dagegen auf.

Diese drei Kantone schlossen sich am 1. August 1291 in einem „ewigen Bund“ zu der Eidgenossenschaft der Schweiz zusammen. Nach und nach traten die anderen Kantone hinzu. Bis heute wird dieser Tag als Schweizer National-Feiertag begangen: Schweizer Bürger bekräftigen seit mehr als 725 Jahren die von ihnen errungene Unabhängigkeit von Herrscherfamilien in Europa. Unter den demokratisch regierten Ländern unserer Zeit ist die Schweiz das Land, in der das Volk durch Bürgerentscheide am unmittelbarsten in das politische Geschehen eingreifen kann.

Ein weiterer Markstein auf dem Weg zum Durchbruch demokratischen Denkens ist die sogenannte „Glorreiche Revolution“ in England im Jahre 1688 n. Chr. König Jakob II. floh nach Frankreich. Seine ältere Tochter war mit Wilhelm III., Statthalter der Niederlande, verheiratet. Sie beide wurden im Jahre 1689 als das neue Königspaar der Engländer gekrönt. Zuvor aber mussten sie die „Bill of rights“ (= eine vom Parlament vorgelegte Gesetzesvorlage, in der das Miteinander von König und Parlament geregelt wird) unterschreiben. Was hier geschah, ereignete sich unter Christen, die zur anglikanischen, zur katholischen oder zu einer der reformierten Kirchen gehörten. Hier vollzog sich der „Niedergang des absolutistischen Prinzips und die Verlagerung der Zentralgewalt vom König auf die politischen Kräfte des Volkes“[18]. Das englische Parlament verabschiedete ein Gesetz, das als die Vorform einer Verfassung in den europäischen Ländern angesehen werden kann. Von nun konnte der König keine Steuern erheben, ohne dass das Parlament zugestimmt hatte. Und von nun an herrschte in England Redefreiheit.

Die Demokratie wird zur Staatsform der Moderne

Ein knappes Jahrhundert nach der „Glorreichen Revolution“ in England erlebt die Westliche Welt zwei Aufbrüche. Zug um Zug setzt sich die Demokratie als die Staatsform durch, ohne die politisches Handeln heute nicht mehr vorstellbar ist. Es war ein Aufbruch, als sich 1776 aus den englischen Kolonien in Nordamerika heraus die Vereinigten Staaten von Amerika bildeten. Und es war noch einmal ganz anders ein Aufbruch, als 1789 in Paris die Französische Revolution wie ein Paukenschlag begann und wie sich dann in Frankreich die Ereignisse überstürzten.

Wenden wir uns zunächst den Ereignissen in Nordamerika zu. Nach der Entdeckung und Eroberung Amerikas im 15. und 16. Jahrhundert, wanderten viele aus den Ländern Europas aus: Sie taten dies, weil sie neugierig waren auf die ganz andere Welt mit ihren Verlockungen. Viele sahen für sich in Europa keine wirtschaftliche Basis mehr, waren also im Europa dieser Zeit von Armut bedroht und suchten nach einer neuen Lebensbasis. Viele empfanden die Machtausübung derjenigen, die auf dem alten Kontinent die Herrschaft ausübten, als bedrückend und ungerecht. Viele entflohen aber auch den Machtstrukturen ihrer Kirchen, die seit Menschengedenken mit den politisch Mächtigen verbandelt waren. Unter den am Anfang des 17. Jahrhunderts nach Amerika ausgewanderten Siedlern waren Anhänger unterdrückter religiöser Minderheiten, z. B. Puritaner und Quäker aus England, Glieder englischer Freikirchen. Sie weigerten sich, sich dem engen Gefüge von englischem Staat und anglikanischer Kirche ein- und unterzuordnen.

In den nach und nach gegründeten Kolonien Englands in Nordamerika genossen diese freiheitsliebenden Menschen die größere Unabhängigkeit. Aber die vom Parlament in London beschlossenen Abgaben und Zölle stießen unter diesen Siedlern im 18. Jahrhundert auf immer größeren Widerstand. Am 12. Juni 1776 wurde in der englischen Kolonie Virginia eine eigene „bill of rights“ verfasst und für dieses Land als Verfassung ausgerufen. Noch im selben Jahr wurde dieses Dokument zur Vorlage für eine grundlegende Verfassung, auf die sich zunächst 13 Kolonien einigten. Sie sagten sich von ihrem Mutterland England los und gründeten einen Staatenbund, die Vereinigten Staaten von Amerika.

Der Artikel 1 dieser Verfassung beginnt mit dem Satz: „Alle Menschen sind von Natur gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte.“

Artikel 2 lautet: „Alle Macht ruht im Volke und leitet sich von ihm ab.“

In Artikel 5 wird die Teilung der Gewalten im Staat festgelegt. Es gibt eine gesetzgebende, eine ausführende und eine richterliche Gewalt. Ämter werden nach dieser Verfassung auf Zeit vergeben.

Nach Artikel 6 finden freie Wahlen statt. Wahlberechtigt sind hier allerdings nur die Männer.

Ausdrücklich heißt es in Artikel 12: „Die Pressefreiheit ist eines der stärksten Bollwerke der Freiheit und kann niemals, außer durch despotische Regierungen, eingeschränkt werden.“

Diese „Bill of Rights“ endet in Artikel 16 mit dem Satz: Alle Menschen haben „einen gleichen Anspruch auf freie Ausübung der Religion nach den Geboten ihres Gewissens. Und jeder hat die Pflicht, christliche Vergebung, Liebe und Barmherzigkeit untereinander zu üben“[19].

Diese Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahre 1776 musste gegen England in dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776-1783) militärisch verteidigt werden. Das amerikanische Heer wurde von George Washington geführt, der Kampf des neuen Staatenbundes gegen England von Frankreich und Spanien unterstützt. Im Frieden von Versailles 1783 wurde der nordamerikanische Staatenbund „Vereinigte Staaten von Amerika“ von den Ländern Europas anerkannt. Im Jahre 1788 verabschiedeten die „USA“ ihre Verfassung. Als erster Präsident wurde George Washington gewählt. 1789 trat er sein Amt an. Man suchte sich als Hauptstadt einen Ort am Potomac River aus, den man nach dem Präsidenten „Washington“ nannte. Als weitere Präsidenten folgten ihm John Adams im Jahre 1797 und Thomas Jefferson im Jahre 1801. Der erste Bundesstaat und die erste Demokratie der modernen Welt hatten sich gebildet.

 

Forderungen der Französischen Revolution

Noch mehr als die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika hat sich die Französische Revolution mit ihrer Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit den Menschen auf unserem Kontinent eingeprägt. Was sich in den Jahren 1789-1799 in Frankreich und besonders in der Hauptstadt Paris ereignete, wurde zu einem Fanal für Europa und zu einer Erschütterung der gewohnten Herrschaftsstrukturen. Grundlegend neue Gedanken wurden ausgesprochen, niedergeschrieben und propagiert, was Recht ist, neu definiert und ausprobiert, durchgesetzt und wieder verworfen. Vernünftige Regelungen setzten sich durch. Und zugleich taten sich Abgründe auf.

Als sich am 5. Mai 1789 in Versailles die Generalstände Frankreichs versammelten, ergriff  der dritte Stand selbstbewusst seine Chance. Jetzt wollten sich die Vertreter der Bürger nicht mehr unter das beugen, was die Vertreter des Adels und der Kirche vorgaben. Erich Pelzer schreibt: „Auf dem Kulminationspunkt der politischen Krise im Januar 1789 erschien in Paris die in der Flut politischer Pamphlete herausragende, rhetorisch glanzvolle Flugschrift des Abbe Sieyes ‚Was ist der Dritte Stand?‘, die der politisierten Öffentlichkeit die eigene Bedeutung in drei einfachen Fragen vor Augen hielt: ‚Was ist der Dritte Stand? – Alles. Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? – Nichts. Was verlangt er? – Etwas zu werden.‘“[20]

In der Nationalversammlung Frankreichs, die sich am 17. Juni 1789  konstituiert, definiert sich der Dritte Stand zum Subjekt des politischen Willens des Staates. Nicht mehr der Adel mit dem König, die die alten Herrschaftsverhältnisse aufrecht erhalten wollen, und nicht mehr der Klerus, der dem Volk den Willen Gottes verkündigt und dabei auch seine eigene Macht sichert, sollen in Zukunft die Politik des Landes bestimmen, sondern die frei gewählten Abgeordneten der gesamten Bevölkerung. Was sie mit der Mehrheit der Stimmen beschließen, soll die Politik ausrichten. Nicht mehr die Mächtigen allein, nicht mehr die Reichen allein, nicht mehr die Rechtsgelehrten allein und nicht mehr der Klerus der Kirche allein, sollen bestimmen, wie das Land geführt wird. In den Debatten der Parlamente können sie alle ihre Argumente  einbringen, und alle sollen aufeinander hören. Man kann miteinander nach Kompromissen suchen und Koalitionen schließen. Aber letztlich entscheidet die Mehrheit der Abgeordneten in den Parlamenten.

Wolfgang Kersting schildert die hinter dieser Errungenschaft der Französischen Revolution liegenden Gedanken Jean-Jacques Rousseaus folgendermaßen: „Wie … kann unter der Bedingung unaufgebbarer Selbstherrschaft legitime politische Herrschaft überhaupt möglich sein? Nur dann, wenn im Staat alle Bürger gleichermaßen die Macht besitzen und sich selbst einmütig die Gesetze geben. Denn dann ist Autonomie gewahrt, bleibt jeder nur seinen eigenen Gesetzen unterworfen, dann ist der allgemeine Wille, die volonte generale, immer auch der Wille jedes Einzelnen.“[21]

Hier wird der Grund gelegt für die lapidare Aussage in Artikel 20 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Dies bedeutet, „dass sich sämtliches Staatshandeln unmittelbar oder mittelbar auf das Volk als Träger der Staatsgewalt zurückführen lassen muss“[22].

Menschen agieren, die ein vages Verhältnis zu Gott haben

Nun sage ich ein ganzes „Ja“ zu dem Satz in der Denkschrift zur Demokratie der Evangelischen Kirche in Deutschland aus dem Jahre 1985: „Keine heute bekannte Staatsform bietet eine bessere Gewähr, die gestellten Probleme zu lösen, als die freiheitliche Demokratie.“[23] Aber immer neu gilt es zu bedenken, dass die Menschen, die in den Jahren 1789-1799 in der Französischen Revolution agiert haben, ein überaus vages Verhältnis zu Gott gehabt haben. So ließen sie im Juli 1790 auf dem Marsfeld bei Paris das Fest des Höchsten Wesens feiern. 1794 proklamierte Robespierre den antichristlichen ‚Kult des höchsten Wesens‘. Er versuchte damit den christlichen Gottesdienst zu ersetzen. Frankreich verstaatlichte die Kirchengüter und ließ die Priester einen Eid auf die Verfassung schwören.

Das revolutionäre Bewusstsein dieser Zeit zeigte sich auch darin, dass man eine neue Zeitrechnung einführte. „Das Jahr 1 der Republik hatte begonnen“, schreibt Richard Nürnberger und dann weiter: „Zeugnis zugleich für den universalen Anspruch der Revolution“[24]. Und dann: „Der Pariser Konvent bot allen Völkern, die in Freiheit leben wollten, Bruderschaft und Schutz an.“[25]

Hier debattieren und handeln Menschen, die von dem aufgeklärten Denken des 17. und 18. Jahrhunderts beseelt sind. Für sie ist eine neue Zeit angebrochen. Sie sehen die Welt völlig anders an als die führenden Köpfe Europas in früheren Jahrhunderten. Ihnen hat sich eine neue Weltanschauung aufgetan. Das englische Wort für „Aufklärung“ lautet: „enlightenment“, meint also ursprünglich „Erleuchtung“. „Die Europäische Aufklärung liebte die Lichtmetapher“, schreibt Gerhard Lohfink[26]. Man schaute von oben herab auf das „finstere Mittelalter“ als eine „Zeit der Indoktrination, des Aberglaubens und des klerikalen Machtmissbrauchs“[27] zurück. Davon, dass Jesus Christus von sich gesagt hat: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12), ließen sich immer weniger Menschen beeindrucken.

Aber bald folgte auf den umjubelten revolutionären Aufbruch der Jahre 1789–1791 im Jahre 1793 der Anfang der Schreckensherrschaft der Jakobiner. „Für Nicht-Aufklärer gibt es eben keine wirkliche Existenzberechtigung! Zu Recht spricht Forst von einem ‚Fanatismus der Toleranz.“, schreibt Arnold Angenendt[28]. Erst 1799 beendete Napoleon diese Zeit, in der das Leben von Hunderten auf dem Schafott beendet und viel Blut vergossen worden war, durch seine diktatorische Herrschaft. Fast ganz Europa wurde von ihm erobert.

Aufrüttelnde Sätze Bonhoeffers

150 Jahre nach den Ereignissen in Paris schreibt Dietrich Bonhoeffer: „Die Französische Revolution ist und bleibt aber bis zum heutigen Tage das Signal des modernen Abendlandes. In erstaunlicher Zusammenballung werden hier mit elementarer Wucht die Gedanken, Forderungen, Bewegungen vieler nachfolgender Generationen auf einmal ans Tageslicht der Geschichte geschleudert. Kult der ratio (= der Vernunft) und Naturvergötterung, Fortschrittsglaube und Kulturkritik, Aufstand des Bürgertums und Aufstand der Masse, Nationalismus und Kirchenfeindschaft, Menschenrechte und diktatorischer Terror – all dies bricht miteinander als etwas Neues in der Geschichte des Abendlandes chaotisch hervor. Die Französische Revolution ist die Enthüllung des befreiten Menschen in seiner ungeheuren Gewalt und seiner entsetzlichsten Verzerrung.“[29]

Im Grunde ist es für einen Christen unumgänglich, immer neu darüber nach zu denken, inwiefern wir heute nicht mehr hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution und der Neuen Zeit, die mit ihr angebrochen ist, zurück können, – und wie heute die mit Jesus Christus gestiftete Erneuerung des Menschen in all seinen Beziehungen bezeugt sein und gelebt werden will, auch im 21. Jahrhundert. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bedeuten in den christlichen Kirchen etwas anderes als in den säkularen Ländern der westlichen Welt. Hier gilt es, sorgfältig zu unterscheiden und zu vergleichen, was die grundlegenden Gedanken und Texte hier und dort sind.

Gerhard Lohfink hat Recht, wenn er betont: „Die Französische Aufklärung proklamierte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. … Sie werden bis heute als Errungenschaft der Aufklärung, der europäischen Emanzipation, der neuzeitlichen Fortschrittsgeschichte reklamiert. Sie werden dem Christentum abgesprochen und der kirchenfeindlichen Aufklärung zugesprochen. In Wirklichkeit haben diese drei Größen ihre tiefsten Wurzeln in der Bibel und im Gottesvolk.“[30]

Es dürfte spannend sein, mitzubekommen und zu verstehen, wie ein in einem arabischen Land oder mitten unter uns geborener und aufgewachsener Muslim an den Inhalten seines Glaubens festhält, also auf Allah, den allein wahren Gott, ausgerichtet ist – und gleichzeitig für die Errungenschaften der 1789-1799 vollzogenen Aufbrüche in Frankreich schwärmt. Wie verträgt sich das Bekenntnis der Muslime: „Sprich: Er ist der eine Gott, der ewige Gott; er zeugt nicht und wird nicht gezeugt, und keiner ist ihm gleich.“ (Sure 112) mit dem überaus vagen Gott der Französischen Aufklärung?

Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949

Zunächst aber gilt es, sich klar zu machen, mit welcher Nüchternheit und Klarheit schon die Autoren der „Weimarer Verfassung“ im Jahre 1919 zu Werke gingen. Noch mehr aber diskutierten die Männer und Frauen des „Parlamentarischen Rates“ in den von den westlichen Siegermächten eroberten Teilen Deutschlands 1948/49 die wesentlichen Elemente einer neuen Verfassung und verabschiedeten dann am 23. Mai 1949 das „Grundgesetz der Bundespublik Deutschland“. Golo Mann bezeichnet es als „eine ausgewachsene Verfassung“[31].

Man war durch die Streitkräfte der Alliierten am 8. Mai 1945 von dem diktatorischen und antichristlichen Regime Adolf Hitlers[32] befreit worden. Man hatte einen Zusammenbruch sondergleichen erlebt; schon als Adolf Hitler im Jahre 1933 Reichskanzler wurde und an die Macht kam, aber erst recht jetzt am Ende seines diktatorischen Regimes für alle sichtbar hatte sich ein Abgrund aufgetan wie nie vorher. Jetzt wollte man einen neuen Staat mit besseren Grundlagen schaffen, als es die Weimarer Republik gewesen ist. Für alle Zukunft sollte es verhindert werden, dass noch einmal eine rassistische Ideologie, wie es der Nationalsozialismus war, in Deutschland mächtig wurde. Und ebenso hatte man das diktatorische Regime der Sowjetunion, das seit 1924 von Joseph Stalin nach den Prinzipien der Sowjetideologie regiert wurde, vor Augen. Solche Prinzipien sollten in dem neuen Staat nicht mächtig werden.

Weder eine Ideologie von rechts, noch eine Ideologie von links, noch irgendeine andere Ideologie sollte das Miteinander in der Bundesrepublik bestimmen und verderben können. Der jetzt neu gegründete Staat sollte nie und nimmer zu einem Weltanschauungs-Staat werden! Damals wurde es von den Frauen und Männern des Parlamentarischen Rates auch nicht gewollt, dass der neue Staat von einer säkularen Weltanschauung dominiert würde, in der Freiheit, Gleichheit und Toleranz die Eckpfeiler bilden. Wer also darin religiös ist, keine Religion zu haben, und diese Haltung absolut setzt, kann seine Meinung äußern, wird aber von dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht besonders geschützt.

Ganz nüchtern wurde im „Grundgesetz“ festgelegt, wie man miteinander Politik machen will: Es sollte klar festgelegt sein, was man miteinander als Grundartikel vertritt, welche Institutionen für die politische Entscheidungsfindung nötig sind und wie sie miteinander agieren. Hier konnten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates der BRD zurückgreifen auf all die Erkenntnisse, die in der inzwischen mehr als 250 Jahre alten Geschichte des Parlamentarismus diskutiert, variiert und niedergeschrieben worden waren. Und man hatte sehr bewusst die Weimarer Verfassung des Deutschen Reiches aus dem Jahre 1919 vor Augen. Man konnte von den guten und schlechten Erfahrungen der Weimarer Republik lernen und suchte dann Schwachstellen dieser Verfassung zu vermeiden.

Wichtig ist es, dass die Bundesrepublik und die anderen Staaten der Westlichen Welt repräsentative Demokratien sind. Nicht das Volk direkt trifft die Entscheidungen und macht Politik. Von allen wahlberechtigten Bürgern in freier und geheimer Wahl gewählte Abgeordnete bilden die Stadt-Parlamente, die Landtage und den Bundestag. In der Regel gehören diese Parlamentarier zu den Parteien, in denen und durch die Meinungen gebildet werden: Diese Abgeordnete aber sind letztlich nur ihrem Gewissen verantwortlich und stimmen in den Parlamenten in geheimer Wahl ab. Nicht unbedeutend ist es, dass es in den westlichen Ländern eine vielfältige, freie Presse gibt.

Dass es zum Menschsein gehört, nach dem zu fragen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“[33], dass Menschen nach Gott und seinen Geboten fragen oder auch nicht, und dass Menschen alleine für sich und zusammen mit anderen ihrem Glauben gemäß leben, wurde bewusst anerkannt. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein säkularer Staat, in dem Religionsfreiheit herrscht. Der Satz 1 aus dem Artikel 137 der Weimarer Verfassung  aus dem Jahre 1919: „Es besteht keine Staatskirche.“ ist nach Artikel 140 des Grundgesetzes aus dem Jahre 1949 Bestandteil des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.

Folglich haben die Glieder von Religionsgemeinschaften die Freiheit, privat für sich und öffentlich mit anderen gemäß ihrem Glauben zu leben. Man gab den christlichen Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften große Freiheiten, sich in Kindergärten und Schulen, Gymnasien und Universitäten mit dem, was sie lehren, einzubringen. Ebenso sollten die Kirchen und die anderen Religionsgemeinschaften in allen Bereichen des Sozialstaates Verantwortung übernehmen können und in Freiheit handeln. Auch konnten und können die christlichen Kirchen und andere Religionsgemeinschaften ihr Eigenleben frei gestalten. Hier sei erinnert an den Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde, von 1983-1996 Richter am Bundesverfassungsgericht: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“[34] Man hat in dem Denken dieses demokratischen Staates die geistesgeschichtlichen und religiösen Wurzeln der Begriffe und der politischen Strukturen ernst zu nehmen.

Willy Brandt proklamierte 1969 in seiner ersten Regierungserklärung: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Er malte den Bürgern dieses Landes und mit ihnen vielen in der westlichen Welt vor Augen, man könne Schritt für Schritt durch Ermutigung der Menschen und durch Veränderung der Strukturen die Art und Weise, wie sich das Volk an dem Regieren beteiligt, fördern und eines Tages vollenden. Wieder einmal wurde die Leidenschaft für einen innerweltlichen Fortschritt der Menschheit entfacht. Es schien, einem Höhepunkt der Menschheitsgeschichte entgegen zu gehen.

Ein ganzes „Ja“ der Kirchen zu diesem demokratischen Staat

Die christlichen Kirchen in Deutschland sagen ein ganzes „Ja“ zu diesem Staat, in dem gilt: „Alle Gewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung ausgeübt.“ (Artikel 20, Satz 2, des Grundgesetzes). Sie tun dies heute, wo deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung dieses Landes zu einer der christlichen Kirchen gehört; sie werden dies auch in Zukunft tun, wenn die Zahl der Kirchenmitglieder sichtbar auf weniger als die Hälfte der Bundesbürger sinkt[35]. Dies gilt weithin auch von den Kirchen in den anderen europäischen Ländern.

Stimmen von Muslimen zur Demokratie

Dieses Kapitel wurde mit Sätzen begonnen, in denen zwei Muslime, die in unserem Land wohnen und wirken, ihre Überzeugungen ausdrücken. Diese zwei sind Navid Kermani und Mouhanad Khorchide. Es sollen jetzt Sätze hinzugefügt werden von einer Muslima und einem Muslim, die beide ebenfalls in unserem Land leben und wirken. Sie haben sich aber von ihrem islamischen Glauben verabschiedet. Es sind Necla Kelek und Hamed Abdel-Samad.

Necla Kelek, als Kind mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen und hier aufgewachsen und ausgebildet, schreibt: „Europa ist eine durch die Erfahrungen von Krieg und Krisen, von Aufklärung und Vernunft, von Freiheits- und Emanzipationskämpfen zusammengewachsene Gemeinschaft, die, so Bundestagspräsident Lammert, ‚eine bestimmte Sichtweise vom Wesen des Menschen, von Gesellschaft und Welt‘ teilt. Mit einem islamischen Welt- und Menschenbild, das über Jahrhunderte hinweg ‚versiegelt‘, von Generation zu Generation weitergereicht wird und sich gegen Wandel sträubt, hat diese nicht viel gemein – in den Grundprinzipien sind beide unvereinbar.“[36]

An einer anderen Stelle bekennt sie: „Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass der Islam, so wie er sich in seinem politischen Kern heute darstellt und repräsentiert, nicht in eine demokratische Gesellschaft zu integrieren ist. Der politische Islam stellt sich in seinem ganzen Wesen als ein Gegenentwurf zur aufgeklärten Zivilgesellschaft dar.“[37]  So kritisch redet eine Intellektuelle, die unter Muslimen aufgewachsen ist, über die Vereinbarkeit von demokratischer Gesellschaft in Europa und Islam.

Der andere ist Hamed Abdel-Samad, geboren und ausgebildet in Ägypten und zunächst rundherum von den Lehren und dem Leben im Islam überzeugt. Aber dann wurde er kritisch gegenüber dem Glauben, der seine Familie und sein Land tief geprägt hat. Er kam nach Deutschland, studierte Sprachen und Politik und begann eine wissenschaftliche Laufbahn. Er gehört zu den profiliertesten islamischen Intellektuellen in Deutschland. Allerdings wandelte er sich vom Fundamentalisten zum erbitterten Islamkritiker. In dem Gespräch mit einem Iraner, der aus seinem Vaterland geflohen ist, denkt er über das Mullah-Regime im Iran und über das Regime der Muslimbrüder in Ägypten nach. Dann schreibt er im Jahre 2014: „Beide waren nach einer friedlichen Revolution an die Macht gekommen, die Freiheit und Gerechtigkeit zum Ziel hatten. Beide nutzten die Demokratie als Vehikel, um – kaum am Ruder – die Demokratie zu vernichten. An der Spitze beider Länder steht eine religiöse Diktatur, die extrem humorlos und allergisch auf jede Form der Kritik reagiert.“[38]

Warnend beschreibt Hamed Abdel-Samad die Ziele eines Islamisten, welcher Prägung auch immer: „Er will die islamistische Gesellschaftsordnung und die Gesetze der Scharia durchsetzen, spätere Weltherrschaft nicht ausgeschlossen. Im tiefsten verachtet er die Demokratie und betrachtet sie lediglich als ein Mittel, um an die Macht zu gelangen.“[39]

Dazu das Votum von Nassim ben Iman, ein Mann aus einem arabischen Land, der Christ geworden ist und hier in Deutschland als Christ lebt: „Zu glauben, dass man den Islam als Religion akzeptieren oder gar integrieren könne, zeugt von einem erbärmlichen Mangel an Kenntnis.“[40]

Stimmen zur Möglichkeit einer Demokratie in

islamisch geprägten Ländern

Auch europäische Islamwissenschaftler fragen, welche Chancen die Demokratie in den islamisch geprägten Gesellschaften der arabischen Länder hat. Immerhin hat die Welt noch deutlich vor Augen, wie im Dezember 2010, im Januar 2011 und in den darauf folgenden Monaten unvorhergesehene Unruhen, machtvolle Demonstrationen und Bürgeraufstände viele dieser Länder ergriff. Es fing in Tunesien an; Ägypten wurde erfasst; der Jemen folgte; Libyen, Syrien und andere Länder schlossen sich an. Man sprach von dem „arabischen Frühling“.

Malise Ruthven hat die 1991 erschienene „Geschichte der arabischen Völker“ von Albert Hourani 2014 neu herausgegeben und „weitererzählt bis zum Arabischen Frühling“[41]. Beide beschreiben mit einem beeindruckenden Gespür für das Ureigene der arabischen Völker, welche gesellschaftlichen und religiösen Kräfte seit Jahrhunderten politische Herrschaft in den Ländern des nördlichen Afrikas und des Vorderen Orients bestimmt haben und noch weiter prägen.

Sicher wurde vor 5-6 Jahren die Forderung der Menschen, besonders der jungen Menschen, nach größerer politischer Beteiligung, nach mehr Jobs, nach Zukunftschancen und nach einer verfassungsmäßigen Beschränkung der Macht laut. Es zog viele auf die Straßen und großen Plätze. Zugleich verständigten sich Hunderttausende mit Hilfe der elektronischen und sozialen Medien über ihre Ziele und über ihr taktisches Vorgehen.

Tunesien und die Türkei

Aber dann heißt es gleich am Anfang dieses Essays: „Nur Tunesien, wo die Bewegung 2010 begann, schien dazu bestimmt, das universelle Streben nach Veränderung durch einen geordneten und verfassungsmäßigen Übergang zu einem demokratischen System unter Führung der islamistischen Ennahada-Partei zu verwirklichen.“[42] Und als Ergebnis wird festgehalten: „Die in den arabischen Staaten ganz unterschiedlichen Spielräume politischer Freiheit  wurden ohne größere Schwierigkeiten wieder beschnitten. Sie hatten deshalb letztlich keinen Effekt auf den ‚absoluten und festen Zugriff des Staates auf die Macht‘ (Simon Clark).“[43] Ein demokratisches Bewusstsein, ein Vertrauen darauf, dass alle Macht vom Volke ausgeht, ist unter den Menschen der arabischen Länder bisher wenig ausgeprägt.

Albert Houranis „Geschichte der arabischen Völker“ weist hin auf das „Konzept der asabiya“ hin, das Ibn Chalduns (1332-1406) entfaltet hat. Die Stabilität der Herrschaft in einem Land ist bestimmt von einer Solidarität, von einem Gemeinschaftsgeist, von einem Clandenken, das sowohl für den Zusammenhalt einer patriarchalischen Familie, als auch der Herrschaft in einem Land von Bedeutung ist. Hourani bezeichnet diese „asabiya“ als ein erstaunlich hartnäckiges Phänomen. Genauer beschrieben: „Die Stabilität eines politischen Regimes beruht auf drei Voraussetzungen: Es muss einer Herrschaftsgruppe gelingen, ihre Interessen mit denen der einflussreichen Kräfte der Gesellschaft zu verbinden, und das Interessenbündnis muss in einer politischen Idee zum Ausdruck kommen, die wiederum in den Augen der Gesellschaft, beziehungsweise eines großen Teils der Gesellschaft, die Macht der Regierenden legitimiert.“[44] Die Macht im Staat liegt in islamisch geprägten Ländern immer in der Hand einer mächtigen Gruppe, die es zu artikulieren vermag, welche Ideen den Staat ausrichten sollen, und die sich ihre Macht von einem genügend großen Teil der Gesellschaft unterstützen lassen.

Ohne dass ich den Anspruch erhebe, hier die Mentalität der politisch Mächtigen in arabischen, vom Islam geprägten Länder präzise beschrieben zu haben, wird hier deutlich: Von den Ländern der westlichen Welt, die von dem Willen der Mehrheit des wahlberechtigten Volkes her – also auf demokratische Weise –  regiert werden, deren Herrschende  sich also immer neu ihre Legimitation von dem eigentlichen Souverän geben lassen müssen, sind diese Gedanken meilenweit entfernt.

Es bleibt die Frage: Wie ist das mit dem „türkischen Demokratiemodell“? Malise Ruthven erinnert an eine Episode aus dem „Arabischen Frühling“: „Als der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan … im Oktober 2011 einen vielbeachteten Besuch auf dem Tahir-Platz machte, strömten Tausende von Ägyptern dorthin, um ihn zu begrüßen. Sie verursachten einen gewaltigen Verkehrsstau und riefen: ‚Ägypten – Türkei – eine Faust.‘ In der folgenden Woche stellte Außenminister Ahmet Davotoglu seine Vision einer strategischen Partnerschaft zwischen Ägypten und der Türkei vor und bezeichnete sie als ‚Achse der Demokratie‘.“[45]

Aber in Ägypten wurde der Militär-Diktator Mubarak gestürzt. Bei freien Wahlen gewannen die Politiker der islamistischen Muslimbruderschaft. Ihr Premierminister Mursi wurde bald abgesetzt. Erneut übernahm das Militär die Macht.

Was die Türkei betrifft, so schildert Ruthven die Neugründung des Staates unter Kemal Atatürk im Jahre 1923. Er hatte die Autorität, die Säkularisierung der politischen Kultur durchzusetzen. Immer neu gab sich die Türkei durch freie Wahlen eine neue Regierung. Aber mehrmals stürzte das Militär durch einen Putsch die vom Volk gewählten Politiker. Dann folgert Ruthven: „Das türkische Modell ist das Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung. Angesichts seines qualvollen Weges wäre es seltsam, wenn die arabischen islamistischen Parteien diesem Beispiel folgen würden.“[46] Es gibt wenig Hoffnung, dass weitere Staaten im Nahen Osten dem „türkischen Modell“ folgen. Abgesehen davon sind die Türkei und besonders ihr Präsident auf dem Weg zu einem immer autoritärer geführten Staat.

Tilman Nagel, Professor für Islamwissenschaft, beschreibt ausführlich das Verhältnis des Islam zu dem säkularen Staat[47]. Auf Grund jahrelanger Studien ist er überzeugt: „Der Hauptstrom des muslimischen politisierenden Schrifttums sieht in der islamischen Verquickung von Religion und Staat die ideale politische Ordnung und versucht, in der Geschichte deren Vorzüge zu entdecken und diese für die glückliche Zukunft der gesamten Menschheit anzupreisen.“[48] Wenig später fügt er hinzu: „Allahs Gemeinwesen ist eben eine Theokratie und kann infolgedessen niemals eine Republik sein.“ Wo man an Allah glaubt, da akzeptiert man, dass Allah regiert, und stellt sich nicht darauf ein, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht. Und dann ergänzt Tilman Nagel: „Deren institutionelle Form mag, wie im Iran geschehen, beibehalten werden, sie wird aber ihres Sinnes beraubt, indem allen demokratischen Entscheidungsgremien ‚Wächterräte‘ vorgeordnet werden, in denen die Scharia-Gelehrten darüber befinden, was zu tun ist.“[49] Mag sich der Iran heute auch als „Republik“ gebärden, den vom Volk gewählten Vertretern in den Parlamenten sind die in Bezug auf die Scharia offiziell Kundigen, die Mullahs, übergeordnet. Sie bestimmen, was im Staat geht und was nicht.

Den islamisch geprägten Ländern sind größere

Freiheitsrechte zu wünschen!

Christine Schirrmacher schreibt: „Realistisch betrachtet sind … weder in der islamischen Geschichte noch in der Gegenwart – zumindest in arabischen Ländern – Elemente einer echten Demokratie … nachweisbar.“ Und dann weiter: „Die Herrschaftsform der Frühzeit des Islam ist das Kalifat, später die Autokratie, die absolute Monarchie oder das autokratische Präsidialsystem (ein de facto allmächtiger Präsident herrscht mit einem Scheinparlament) sowie in einigen Fällen die Theokratie. Echte Demokratien sind im arabischen Raum bisher jedoch nicht entstanden.“[50]

Ausführlich beschreibt Chr. Schirrmacher die Positionen, die sich heute unter muslimischen Theologen und Intellektuellen zur Demokratie finden. Dabei unterscheidet sie:

  1. Eine gänzlich ablehnende Haltung
  2. Eine vordergründig zustimmende Positionierung, die jedoch de facto Teile der Demokratie durch islamische Prinzipien ersetzt bzw. die Demokratie an den Maßstäben des islamischen Rechtes misst.
  3. Eine vollends befürwortende Position, fügt aber dann hinzu: „die sich allerdings bis heute auf Intellektuelle, Theologen, Philosophen, Journalisten und Regimekritiker beschränkt, die in islamisch geprägten Ländern weder an den Lehrstühlen der Universitäten noch in den großen Lehrstätten und Moscheen unterrichten und teilweise, aus Sorge um ihr Leben und Wohlergehen, in westliche Länder geflüchtet sind“[51].

Sie schließt ihr Buch mit den Sätzen: Den islamisch geprägten Ländern „sind vermehrte Freiheitsrechte und wirtschaftliche Entwicklungen dringend zu wünschen – die grundsätzliche Begründung dieser Freiheitsrechte beziehungsweise die Suche nach einer ideengeschichtlichen Herleitung dieser Freiheitsrechte, die von der Mehrheit getragen wird, hat abseits der kritisch-progressiven Intellektuellenschicht jedoch bisher noch nicht einmal begonnen“[52].

[1] Andreas Meier, Politische Strömungen im modernen Islam. Quellen und Kommentare. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, S.107

[2] Vgl. die Art und Weise, wie er das Leben und das Wirken des von ihm hochgeachteten Mehdi Bazargan in seinem Vorwort des Buches von Bazargan beschreibt, das den Titel trägt: Und Jesus ist sein Prophet. Der Koran du die Christen, aus dem persischen von Markus Gerhold, hg. und mit einer Einleitung versehen von Navid Kermani, München 2006, S. 7-20, S. 9

[3] N. Kermani, Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015, 2. Auflage, S. 168-168, S. 175

[4] N. Kermani, Wer ist wir? Muslime in Deutschland, München 2010, 2. Auflage, S. 168

[5] A.a,O., S. 170

[6] M. Khorchide, Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Theologie, Freiburg-Basel-Wien 2014, 3. Auflage, S. 144, siehe auch: S. 130, 148, 156, 176, 211, 213

[7] Chr. Schirrmacher, Das Verhältnis von Islam und Demokratie, in: Islam und christlicher Glaube, Zeitschrift des Instituts für Islamfragen (IFI) Nr. 1(2013), S.5-12, S. 7

[8] M.G.. Schmidt, Art.: „Demokratie, juristisch“ in: Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, hg. v. W. Heun, M. Honecker, M. Morlock, J. Wienand, Stuttgart 2006, Sp. 325-336, Sp.

[9] A.a.O., Sp. 326

[10] A. Heuss, Hellas, Die klassische Zeit, in: Griechenland. Die hellenistische Welt. Band III der Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte in 12 Bänden, hg. v. Golo Mann und Alfred Heuß, Band Gütersloh 1979, S. 214-400, S. 268

[11] Ebd.

[12] J. Sieckmann, Art: „Recht, juristisch“, in Evangelisches Staatslexikon, Sp.1882-1891, Sp. 1884

[13] Th. Heuß, Reden an die Jugend, Tübingen 1956, S. 25-34: „Lob der Schule“ Rede im September 1950 in Heibronn, S. 32

[14] Vgl. Hartmut Frische, Nur so ist mit uns Staat zu machen! Von der Volkskirche zur profilierten Minderheitskirche, Nürnberg 2014, besonders Kapitel 7: Kaiser Karl – Dieser hat als Visionär und als Machtpolitiker zugleich sein Reich als das Abbild des Reiches Gottes im Blick, S. 61-72

[15] Vgl. die Essays von Reinhold Schneider über Heinrich I., Lothar von Supplinburg, Maria Theresia und Friedrich Wilhelm IV. in: R. Schneider, Macht und Gnade. Gestalten, Bilder und Werte in der Geschichte, mit einem Vorwort von Pirmin Meier, Frankfurt a. M. 1977, S. 282ff, 142ff, 228ff und 19ff

[16] Francois Louis Ganshof, Das Hochmittelalter, in: Islam. Die Entstehung Europas, Band V. der Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, hg. von Golo Mann und August Nitschke, S. 395-488, S.465

[17] A.a.O., S. 417

[18] Victor-Lucien Tapie, Das Zeitalter Ludwigs XIV., in: Von der Reformation zur Revolution, Band VII der Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, hg. v. Golo Mann und August Nitschke, S. 275-348, S. 336

[19] S. Robert R. Palmer: Der Einfluss der amerikanischen Revolution auf Europa, in: Das neunzehnte Jahrhundert, Band VIII der: Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, hg. v. Golo Mann und August Nitschke, S. 29-58, S. 50f

[20] E. Pelzer, Art.: „Französische Revolution“, in: Evangelisches Staatslexikon. Neuausgabe, Sp. 614-619, Sp. 614f

[21] W. Kersting, Art.: „Gesellschaftsvertrag“, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 760-763, S. 762

[22] Karl-Peter Sommermann, Art.: „Volk“, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2655-2658, Sp. 2657

[23] Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der EKD, hg. v. Kirchenamt im Auftrage des Rates der EKD, mit einem Vorwort von Landesbischof D. Eduard Lohse, Gütersloh 1985, 2. Auflage, S. 40,

[24] R. Nürnberger, Französische Revolution und Napoleon, in: Das neunzehnte Jahrhundert, Band  VIII: Das neunzehnte Jahrhundert der: Weltgeschichte, S. 59-191, S. 100.

[25] A.a.O., S. 102

[26] G. Lohfink, Im Ringen um die Vernunft. Reden über Israel, die Kirche und die Europäische Aufklärung, Freiburg-Basel-Wien 2016, S. 101

[27] A.a.O., S. 66

[28] A. Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 2009, 5. Auflage, S. 342; mit dem Hinweis auf R. Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M. 2003, S. 366

[29] D. Bonhoeffer: Erbe und Verfall, in: Ethik, zusammengestellt von E. Bethge, München 1963, 6. Auflage, S. 94-116, S. 103

[30] G. Lohfink, Im Ringen um die Vernunft, S. 226

[31] G.. Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1980, 15. Auflage, S. 986

[32] Vgl. H. Frische, Visionen, die aufblicken lassen – eröffnet aus der Offenbarung des Johannes, Neuendettelsau 2008, S. 127-159

[33] Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 1963, S. 13

[34] Noch einmal zitiert in: Biographisches Interview von Dieter Gosewinkel, in: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Aufsätze von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Berlin 2011, 307-486, S. 430.

[35] S. Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, herausgegeben vom Kirchenamt des Rates der EKD, mit einem Vorwort von Landesbischof D. Eduard Lohse, Gütersloh 1985, 2. Auflage

[36] N. Kelek, Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes, München 2007, S. 238f

[37] N. Kelek, Himmelsreise. Mein Streit mit den Wächtern des Islam, Köln 2010, S. 247

[38] H. Abdel-Samad, Der islamische Faschismus. Eine Analyse, München 2014, S. 167f

[39] A.a.O., S. 29

[40] Nassim ben Imam, „Ich war Muslim und wurde Christ“. Die Stimme eines Konvertiten, in: Ursula Stegemann (Hg.), Feindbild Christentum im Islam. Eine Bestandsaufnahme, Freiburg-Basel-Wien 2004, S. 163-172, S. 171

[41] Albert Hourani, Die Geschichte der arabischen Völker (1991), weitererzählt bis zum Arabischen Frühling von Malise Ruthven,  Frankfurt a. M., 2014

[42] A.a.O., S. 561

[43] A.a.O., S. 603

[44] A.a.O., S. 20

[45] A.a.O., S. 609

[46] A.a.O., S. 610

[47] Tilman Nagel, Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam, Berlin 2014, Kapitel C. Der Islam und der säkulare Staat – Grundlinien eines Konflikts, S. 195-304

[48] A.a.O., S. 223

[49] A.a.O., S. 224

[50] Chr. Schirrmacher, Islam und Demokratie. Ein Gegensatz?, Holzgerlingen 2013, S. 25f

[51] A.a.O., S.73

[52] A.a.O., S. 90