Barths 125. Geburtstag

Vor kurzem griff ich wieder einmal in meinem Bücherregal zu: Karl Barth, „Eine Schweizer Stimme, 1938-1945“, Zürich 1948, 2. Auflage, und las in den hier veröffentlichten Briefen und Vorträgen des Baseler Theologieprofessors aus der Kriegszeit. Erneut war ich sehr beeindruckt. Wer sonst hat damals so intensiv Kontakte zu den Christen in den von Hitler überfallenen Ländern geknüpft und gepflegt, wie Barth es gemacht hat?

Inmitten des irrsinnig gewordenen Europas

1934 von den Nationalsozialisten seines Amtes an der Universität in Bonn enthoben, wird Barth 1935 nach Basel berufen. Auch wenn sich um ihn herum in Europa die Situation zuspitzt, sitzt er an seinem Schreibtisch, geht Woche für Woche in seinen Hörsaal und trifft sich mit seinen Studenten im Seminarraum. Barth schreibt: „Für meine nächstliegende und wichtigste Pflicht hielt ich die: an meinem Teil dafür sorgen, dass wenigstens an einer Stelle inmitten des irrsinnig gewordenen Europas, nämlich auf unserer schweizerischen Insel und speziell in unserer Grenzstadt Basel, … ordentlich und ‚als wäre nichts geschehen‘ Theologie getrieben werde.“ Seite um Seite der „Kirchlichen Dogmatik“ entsteht.

Barth hat selbst in Deutschland die Machtergreifung Adolf Hitlers erlebt. Natürlich ist er intensiv an dem interessiert, was in diesen Jahren in Europa geschieht. Er äußert  durchgehend die Überzeugung, „dass einem Hitler unbedingt widerstanden werden müsse – und zwar geistig und militärisch. Es geht nach ihm dabei um nicht weniger als um den Versuch, die ‚Revolution des Nihilismus‘ aufzuhalten, die unserem Leben alles nehmen würde, was es lebenswürdig macht“. Er selbst meldet sich deshalb im April 1940 zum bewaffneten Hilfsdienst und hat fortan in seinem Schlafzimmer „einen Helm, eine komplette Uniform, ein Gewehr samt Bajonett“.

Wie sehr Barth in diesen Jahren der Katastrophe mit seinen Freunden in den Kirchen Europas verbunden ist, zeigen die Briefe, die er nun schreibt: im Sept 1938 – noch vor der Besetzung der Tschechoslowakei – an Prof. Hromadka in Prag, im Okt. 1940 – nach dem Waffenstillstand Deutschlands mit dem Nachbarland – an die Protestanten in Frankreich, im April 1941 an die christlichen Geschwister in Großbritannien. Im Dezember 1941 sendet Barth über den Londoner Rundfunk eine Weihnachtsbotschaft an die Christen in Deutschland, im April 1942 eine Grußbotschaft an die Christen in Norwegen. Im Juli 1942 geht „unterirdisch“ ein Brief an seine Freunde in den Niederlanden.

Nicht bloß Zuschauen!

Barth wehrt sich gegen „den Rückzug der Christenheit aus der kirchlichen und politischen Verantwortlichkeit auf die innere Linie einer Religiosität, die sich, um sich selber zu erhalten, schon um die rechte Gestalt der Kirche und erst recht um die des Staates nicht mehr kümmern, jedenfalls nicht mehr kämpfen und leiden wollte“. Und an anderer Stelle: „Sicher: wir haben als Christen auch unsere eigenen Gedanken, Wege und Aufgaben, die nicht die der anderen, sondern nur die unsrigen sein können. Aber das darf nicht bedeuten, dass wir als frommes Häuflein, mit unseren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, abseits stehen, wenn das Haus brennt.“ Von einem Christen kann es also gefordert sein, sein eigenes Wohlergehen und sein eigenes Leben in die Waagschale zu werfen; er hat seine Verantwortung für den rechten Weg der Kirche und des Staates, in denen er lebt, wahrzunehmen.

„Eine schweigende, eine dem Zeitgeschehen bloß zuschauende Gemeinde wäre nicht die christliche Gemeinde“, mahnt Barth am 23. Juli 1944 in einem Vortrag, gehalten drei Tage nach dem Attentat auf Hitler. Sicher redet und schreibt Barth in der Schweiz, die vom Kampfgeschehen verschont bleibt. Allerdings ist sie während dieser Jahre ständig davon bedroht, dass auch sie in einem Blitzkrieg  erobert wird. Unter deutschen Soldaten soll schon gesungen worden sein: „Die Schweiz in ihrer Blütenpracht – Die nehmen wir in einer Nacht.“

Seelsorgerlich geht Barth mit den ihm nahe stehenden Christen in den Ländern um, die bereits von der Wehrmacht überfallen wurden und nun unterdrückt werden. Den Brüdern und Schwestern in Holland schreibt er in der Adventszeit 1942: „Ihr steht mitten in einer schweren Prüfung eures Glaubens, eurer Treue, eurer Geduld. … Ihr seid … täglich und stündlich von Angst und Sorge, von Drohung und Tod umgeben.“ Und dann: „Wir haben ein leuchtendes und funkelndes Wort, das widerspricht allen solchen Gedanken: Jesus Christus ist geboren; Er ist für uns gestorben; Er ist wahrhaftig auferstanden. Ihm gehört die Zeit: auch die Zeit unseres Leides, unserer Anfechtung, unserer Versuchung, auch die Zeit Hitlers, auch die dunkle Zeit der Unterdrückung und des Schreckens, der Schande und des Verrates.“

Ein Seelsorger für Menschen in vielen Ländern

Nach dem Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich im Juni 1940 versucht Barth  die Christen in Frankreich zu trösten und aufzurichten, wenn er schreibt: „Mehr als je und vielleicht nirgends so wie im heutigen Frankreich würde der gekreuzigte Christus – dann nämlich, wenn es um die Demut vor Gott ginge – als der Auferstandene zu verkündigen sein: als der König, dessen Reich keine Grenzen hat und dessen Knechte keine Furcht haben können, weil er die Welt überwunden hat.“ Und dann weiter: „In der Kirche von Frankreich muss der Krieg geistlich weitergehen. Sie kann mit Hitler unter keinem Titel Frieden oder auch nur Waffenstillstand schließen.“

Immer klarer sehen die Männer und Frauen der Bekennenden Kirche, dass sie es bei Adolf Hitler mit einer antichristlichen Gestalt zu tun haben. Hans-Joachim Iwand formuliert es kurz nach dem Krieg so: „Das Gegenüber, das die Bekennende Kirche vor sich sah, war ein anti-christliches Gegenüber, und es kam darauf an, dieses anti-christliche Gegenüber in seinen wahren Ansichten zu entschleiern.“ An anderer Stelle kann Iwand schreiben: „Hitler hat von Gott und von der Vorsehung gesprochen – wie ein heidnischer Caesar das tun kann, ohne erröten zu müssen, aber den Namen Jesus Christus hat er korrekt und genau vermieden.“ Den Namen Jesu hat Hitler gehasst.

Der Staat als Wohltat

Je mehr sich für Barth das wahre Wesen der nationalsozialistischen Machtentfaltung offenbart, desto klarer stellt er heraus, welche Wohltat der von Gott gestiftete Staat  ist. Menschen können dankbar sein, die in einem Staat leben, der sich für Recht und Freiheit einsetzt, die Schwachen schützt, die Gaben der Menschen in ihm fördert und Unrecht aufdeckt und bestraft. Barth beruft sich hier auf  Röm 13,3 und 1. Petr 2,14. Natürlich weiß er die Demokratie, die sich in der Schweiz über Jahrhunderte hin bewährt hat, zu schätzen.

Er vergleicht das Wesen der Schweiz mit dem Alpenglühen, diesem einzigartigen Natur-Schauspiel. Wenn es Abend wird und die Sonne untergeht, bringen die Sonnenstrahlen in den Bergen ein ganz besonderes Leuchten hervor. Jetzt bekennt Karl Barth: Genauso ist der politische Charakter der Schweiz „ein Widerschein von dem uns und dem ganzen Abendland verkündigten Evangelium von Jesus Christus“.

Die politische Eigenart der Schweiz leuchtet nicht aus sich selbst heraus. Was hier gewachsen ist, konnte von Menschen nicht geschaffen werden. Hier werden Dörfer, Städte und ganze Landstriche mit allen, die in ihnen wohnen, von außen angestrahlt. Hinter allem steht, mehr oder weniger verborgen, der Glanz der Königsherrschaft Jesu Christi. Wo die rechte öffentliche Ordnung und der rechte Staat Maß und Mitte gefunden haben, da sind die Voraussetzungen dafür gegeben, dass „ … wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit“ (1.Tim 2,2).

Christengemeinde und Bürgergemeinde

Darauf, wie Karl Barth dann in seiner 1946 direkt nach dem Kriege verfassten Schrift: „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ das Verhältnis von Kirche und Staat beschriebt, kann hier nur hingewiesen werden. Die Definition Barths ist genial: In der Bürgergemeinde geht es um die äußere, relative, vorläufige Humanisierung des Zusammenlebens in einem Land. Das Besondere der Christengemeinde ist es demgegenüber, dass hier die Menschen in ihrem Innersten beteiligt sind, dass sie in all ihrem Denken und Handeln von Gott her erfasst sind und auf Gott hin ausgerichtet werden und dass das, was hier gedacht, geglaubt und getan wird, in der Ewigkeit Bestand hat. Damit ist das, was in der Christengemeinde geschieht, gegenüber dem, was in der Bürgergemeinde geschieht, das Klarere, Größere und Wichtigere. Was dies im Einzelnen heißt, müsste in einem weiteren Artikel entfaltet werden.